Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

tritt ihr vielmehr mit einem Anspruch entgegengesetzter Bildung entgegen. Seine
Schilderungen des Volks siud uicht für die blasirte Gesellschaft bestimmt, die sich
durch die Anschauung einer naiven Harmonie von ihrer eigenen Zerrissenheit er¬
holen soll, sondern für das Volk selbst, um es über seiue Tugenden und seine
Schwächen aufzuklären. Seine Schriften haben durchweg einen pädagogischen Zweck.

Sie unterscheiden sich von den pädagogischen Werten der Aufklärungsperiode
dadurch, daß sie das Voll, welches sie zu bilden unternehmen, erst studiren; daß
sie ihre Bildungsversuche nicht ans eine Uniform berechnen, in welche die Gesell¬
schaft zu bringen sei, sondern aus eine Pflege des Besondern, Concreteu. Sie
habe" in ihrer Richtung auf behutsame, schonende Reform viel Aehnlichkeit mir den
patriotischen Phantasien von Justus Möser.

An dem Pädagogischen Zweck soll mau aber nicht mäkeln. Die Kunst der
Darstellung, die wir bei unseren verschrobenen ästhetischen Begriffen sür unverein-
bar hielten mit einer ernsten sittlichen Richtung, ivird vielmehr durch sie gestützt
und gekräftigt. Schulmeisterliche Ermahnungen, die ins Allgemeine gehn, sind
allerdings sehr unästhetisch, aber die Menschenkenntniß führt erst dann zu einer
wahrhaft heitern Darstellung, wenn sie mit dein Glauben Hand in Hand geht,
daß es mit dem Menschen vom Schlechten! zum Bessern fortgehen könne und
müsse, und mit dein Willen, diesem Fortschritt durch Aufsuchen und Pflege des
rein Menschlichen auch in deu Verirrungen des Geistes in die Arme zu greifen.

Der Beruf unsers Dichters weist ihm diese doppelte Stellung an. Durch
das Predigeramt ist seine Richtung aus deu ethischen Zweck, so wie seiue genaue
Kenntniß von den Sitten des Volks, mit welchem er in steter, unmittelbarer Be¬
rührung bleibt, bedingt. Auch seine Polemik gegen den Radikalismus: gegen
diesen fieberhaftem Drang, alles Besondere ins Allgemeine aufzulösen.

Jeremias Gotthelf ist orthvdo.r, oder wenigstens ereifert er sich eben so stark
gegen den Radicalismus in religiösen als in politischen Dingen. Aber es ist bei
ihm weder von dem süßlichen Pietismus uoch von dem finstern Zelotenthum un¬
serer modernen Orthodoxie eine Spur. "Du sollst den Namen Gottes uicht
unnützlich führen," dieses Gebot beobachtet er in voller Strenge.

Es ist dies eine Art der Rechtgläubigkeit, mit der wir nus von unserm phi¬
losophischen Standpunkt gar wohl befreunden können, obgleich wir in ihren
Augen als Ketzer der schlimmsten Art gelten müssen. Ja sie steht uns näher, als
jene "Lichtfreunde", die ihre Laterne mit einer solchen Geschicklichkeit nach allen
Seiten hin und herwenden, daß sie am Ende an der Existenz ihres eignen
Rückens zweifeln, weil sie ihn nicht sehen tonnen. -- Die Sache verhält sich
nämlich so.

Der Glaube an eine jenseitige Welt, zu der das Hienieden nur eine
Vorbereitung sei, führt in seiner Konsequenz zu eiuer Verachtung alles
Irdischen, weil dein Unendlichen gegenüber das Endliche als vollkommen nichtig


tritt ihr vielmehr mit einem Anspruch entgegengesetzter Bildung entgegen. Seine
Schilderungen des Volks siud uicht für die blasirte Gesellschaft bestimmt, die sich
durch die Anschauung einer naiven Harmonie von ihrer eigenen Zerrissenheit er¬
holen soll, sondern für das Volk selbst, um es über seiue Tugenden und seine
Schwächen aufzuklären. Seine Schriften haben durchweg einen pädagogischen Zweck.

Sie unterscheiden sich von den pädagogischen Werten der Aufklärungsperiode
dadurch, daß sie das Voll, welches sie zu bilden unternehmen, erst studiren; daß
sie ihre Bildungsversuche nicht ans eine Uniform berechnen, in welche die Gesell¬
schaft zu bringen sei, sondern aus eine Pflege des Besondern, Concreteu. Sie
habe» in ihrer Richtung auf behutsame, schonende Reform viel Aehnlichkeit mir den
patriotischen Phantasien von Justus Möser.

An dem Pädagogischen Zweck soll mau aber nicht mäkeln. Die Kunst der
Darstellung, die wir bei unseren verschrobenen ästhetischen Begriffen sür unverein-
bar hielten mit einer ernsten sittlichen Richtung, ivird vielmehr durch sie gestützt
und gekräftigt. Schulmeisterliche Ermahnungen, die ins Allgemeine gehn, sind
allerdings sehr unästhetisch, aber die Menschenkenntniß führt erst dann zu einer
wahrhaft heitern Darstellung, wenn sie mit dein Glauben Hand in Hand geht,
daß es mit dem Menschen vom Schlechten! zum Bessern fortgehen könne und
müsse, und mit dein Willen, diesem Fortschritt durch Aufsuchen und Pflege des
rein Menschlichen auch in deu Verirrungen des Geistes in die Arme zu greifen.

Der Beruf unsers Dichters weist ihm diese doppelte Stellung an. Durch
das Predigeramt ist seine Richtung aus deu ethischen Zweck, so wie seiue genaue
Kenntniß von den Sitten des Volks, mit welchem er in steter, unmittelbarer Be¬
rührung bleibt, bedingt. Auch seine Polemik gegen den Radikalismus: gegen
diesen fieberhaftem Drang, alles Besondere ins Allgemeine aufzulösen.

Jeremias Gotthelf ist orthvdo.r, oder wenigstens ereifert er sich eben so stark
gegen den Radicalismus in religiösen als in politischen Dingen. Aber es ist bei
ihm weder von dem süßlichen Pietismus uoch von dem finstern Zelotenthum un¬
serer modernen Orthodoxie eine Spur. „Du sollst den Namen Gottes uicht
unnützlich führen," dieses Gebot beobachtet er in voller Strenge.

Es ist dies eine Art der Rechtgläubigkeit, mit der wir nus von unserm phi¬
losophischen Standpunkt gar wohl befreunden können, obgleich wir in ihren
Augen als Ketzer der schlimmsten Art gelten müssen. Ja sie steht uns näher, als
jene „Lichtfreunde", die ihre Laterne mit einer solchen Geschicklichkeit nach allen
Seiten hin und herwenden, daß sie am Ende an der Existenz ihres eignen
Rückens zweifeln, weil sie ihn nicht sehen tonnen. — Die Sache verhält sich
nämlich so.

Der Glaube an eine jenseitige Welt, zu der das Hienieden nur eine
Vorbereitung sei, führt in seiner Konsequenz zu eiuer Verachtung alles
Irdischen, weil dein Unendlichen gegenüber das Endliche als vollkommen nichtig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185837"/>
          <p xml:id="ID_1935" prev="#ID_1934"> tritt ihr vielmehr mit einem Anspruch entgegengesetzter Bildung entgegen. Seine<lb/>
Schilderungen des Volks siud uicht für die blasirte Gesellschaft bestimmt, die sich<lb/>
durch die Anschauung einer naiven Harmonie von ihrer eigenen Zerrissenheit er¬<lb/>
holen soll, sondern für das Volk selbst, um es über seiue Tugenden und seine<lb/>
Schwächen aufzuklären. Seine Schriften haben durchweg einen pädagogischen Zweck.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1936"> Sie unterscheiden sich von den pädagogischen Werten der Aufklärungsperiode<lb/>
dadurch, daß sie das Voll, welches sie zu bilden unternehmen, erst studiren; daß<lb/>
sie ihre Bildungsversuche nicht ans eine Uniform berechnen, in welche die Gesell¬<lb/>
schaft zu bringen sei, sondern aus eine Pflege des Besondern, Concreteu. Sie<lb/>
habe» in ihrer Richtung auf behutsame, schonende Reform viel Aehnlichkeit mir den<lb/>
patriotischen Phantasien von Justus Möser.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1937"> An dem Pädagogischen Zweck soll mau aber nicht mäkeln. Die Kunst der<lb/>
Darstellung, die wir bei unseren verschrobenen ästhetischen Begriffen sür unverein-<lb/>
bar hielten mit einer ernsten sittlichen Richtung, ivird vielmehr durch sie gestützt<lb/>
und gekräftigt. Schulmeisterliche Ermahnungen, die ins Allgemeine gehn, sind<lb/>
allerdings sehr unästhetisch, aber die Menschenkenntniß führt erst dann zu einer<lb/>
wahrhaft heitern Darstellung, wenn sie mit dein Glauben Hand in Hand geht,<lb/>
daß es mit dem Menschen vom Schlechten! zum Bessern fortgehen könne und<lb/>
müsse, und mit dein Willen, diesem Fortschritt durch Aufsuchen und Pflege des<lb/>
rein Menschlichen auch in deu Verirrungen des Geistes in die Arme zu greifen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1938"> Der Beruf unsers Dichters weist ihm diese doppelte Stellung an. Durch<lb/>
das Predigeramt ist seine Richtung aus deu ethischen Zweck, so wie seiue genaue<lb/>
Kenntniß von den Sitten des Volks, mit welchem er in steter, unmittelbarer Be¬<lb/>
rührung bleibt, bedingt. Auch seine Polemik gegen den Radikalismus: gegen<lb/>
diesen fieberhaftem Drang, alles Besondere ins Allgemeine aufzulösen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1939"> Jeremias Gotthelf ist orthvdo.r, oder wenigstens ereifert er sich eben so stark<lb/>
gegen den Radicalismus in religiösen als in politischen Dingen. Aber es ist bei<lb/>
ihm weder von dem süßlichen Pietismus uoch von dem finstern Zelotenthum un¬<lb/>
serer modernen Orthodoxie eine Spur. &#x201E;Du sollst den Namen Gottes uicht<lb/>
unnützlich führen," dieses Gebot beobachtet er in voller Strenge.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1940"> Es ist dies eine Art der Rechtgläubigkeit, mit der wir nus von unserm phi¬<lb/>
losophischen Standpunkt gar wohl befreunden können, obgleich wir in ihren<lb/>
Augen als Ketzer der schlimmsten Art gelten müssen. Ja sie steht uns näher, als<lb/>
jene &#x201E;Lichtfreunde", die ihre Laterne mit einer solchen Geschicklichkeit nach allen<lb/>
Seiten hin und herwenden, daß sie am Ende an der Existenz ihres eignen<lb/>
Rückens zweifeln, weil sie ihn nicht sehen tonnen. &#x2014; Die Sache verhält sich<lb/>
nämlich so.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1941" next="#ID_1942"> Der Glaube an eine jenseitige Welt, zu der das Hienieden nur eine<lb/>
Vorbereitung sei, führt in seiner Konsequenz zu eiuer Verachtung alles<lb/>
Irdischen, weil dein Unendlichen gegenüber das Endliche als vollkommen nichtig</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] tritt ihr vielmehr mit einem Anspruch entgegengesetzter Bildung entgegen. Seine Schilderungen des Volks siud uicht für die blasirte Gesellschaft bestimmt, die sich durch die Anschauung einer naiven Harmonie von ihrer eigenen Zerrissenheit er¬ holen soll, sondern für das Volk selbst, um es über seiue Tugenden und seine Schwächen aufzuklären. Seine Schriften haben durchweg einen pädagogischen Zweck. Sie unterscheiden sich von den pädagogischen Werten der Aufklärungsperiode dadurch, daß sie das Voll, welches sie zu bilden unternehmen, erst studiren; daß sie ihre Bildungsversuche nicht ans eine Uniform berechnen, in welche die Gesell¬ schaft zu bringen sei, sondern aus eine Pflege des Besondern, Concreteu. Sie habe» in ihrer Richtung auf behutsame, schonende Reform viel Aehnlichkeit mir den patriotischen Phantasien von Justus Möser. An dem Pädagogischen Zweck soll mau aber nicht mäkeln. Die Kunst der Darstellung, die wir bei unseren verschrobenen ästhetischen Begriffen sür unverein- bar hielten mit einer ernsten sittlichen Richtung, ivird vielmehr durch sie gestützt und gekräftigt. Schulmeisterliche Ermahnungen, die ins Allgemeine gehn, sind allerdings sehr unästhetisch, aber die Menschenkenntniß führt erst dann zu einer wahrhaft heitern Darstellung, wenn sie mit dein Glauben Hand in Hand geht, daß es mit dem Menschen vom Schlechten! zum Bessern fortgehen könne und müsse, und mit dein Willen, diesem Fortschritt durch Aufsuchen und Pflege des rein Menschlichen auch in deu Verirrungen des Geistes in die Arme zu greifen. Der Beruf unsers Dichters weist ihm diese doppelte Stellung an. Durch das Predigeramt ist seine Richtung aus deu ethischen Zweck, so wie seiue genaue Kenntniß von den Sitten des Volks, mit welchem er in steter, unmittelbarer Be¬ rührung bleibt, bedingt. Auch seine Polemik gegen den Radikalismus: gegen diesen fieberhaftem Drang, alles Besondere ins Allgemeine aufzulösen. Jeremias Gotthelf ist orthvdo.r, oder wenigstens ereifert er sich eben so stark gegen den Radicalismus in religiösen als in politischen Dingen. Aber es ist bei ihm weder von dem süßlichen Pietismus uoch von dem finstern Zelotenthum un¬ serer modernen Orthodoxie eine Spur. „Du sollst den Namen Gottes uicht unnützlich führen," dieses Gebot beobachtet er in voller Strenge. Es ist dies eine Art der Rechtgläubigkeit, mit der wir nus von unserm phi¬ losophischen Standpunkt gar wohl befreunden können, obgleich wir in ihren Augen als Ketzer der schlimmsten Art gelten müssen. Ja sie steht uns näher, als jene „Lichtfreunde", die ihre Laterne mit einer solchen Geschicklichkeit nach allen Seiten hin und herwenden, daß sie am Ende an der Existenz ihres eignen Rückens zweifeln, weil sie ihn nicht sehen tonnen. — Die Sache verhält sich nämlich so. Der Glaube an eine jenseitige Welt, zu der das Hienieden nur eine Vorbereitung sei, führt in seiner Konsequenz zu eiuer Verachtung alles Irdischen, weil dein Unendlichen gegenüber das Endliche als vollkommen nichtig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/500>, abgerufen am 22.07.2024.