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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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1818 eine gewaltige Feuersbrunst und legte Neustadt bis ans den letzten Ballen
in Asche. Dies Ereigniß bildet den Wendepunkt, und welchem in Neustadt die
Fabel aufhört und die Geschichte beginnt.

Mau sieht der jetzigen Stadt ihre Jugend an; die moderne Schmucklosigkeit
ihrer einstöckigen Steinhäuser aber läßt den allgemeinen Wohlstand kaum errathe".
Wie überall in Holstein, so fließt auch die hiesige Wohlhabenheit nicht lediglich
aus dem Mangel an Übervölkerung, sondern ist eben so sehr dem wirthlichen und
nüchternen Charakter des Volkes zuzuschreiben. Die meisten Bürger haben Hans
und Hos sich auf der See erobert; mancher schwimmt seine zehn, zwölf Jahre zwischen
Norwegen und Schottland, Dänemark und Finnland herum und legt uach jeder
Fahrt, was er vou seiner "Heier" (Löhnung) als Capitän, Steuermann oder selbst
als gemeiner Matrose erspart, so lange zurück, bis er deu Südwester an den
Nagel hängen und das Tau und Nuder mit Pflug und Spaten vertauschen kann.
Seine Jungen aber schickt er, sobald sie construirt sind, ohne viel Rücksicht ans
Wind und Wetter zur Probe aufs Meer, und ich habe bemerkt, daß die Mutter
bei solchen Gelegenheiten um ihre Küchlein nicht besorgter sind als die Väter.
So hat Nachbar Klaas unlängst seinen "unfreiwilligen" dreizehnjährigen Jungen
zum ersten Mal gleich bis Königsberg fahren lassen, und ich hatte Gelegenheit,
dem Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn beizuwohnen. Die Klaasiu, eine hoch-
kuochige, breitfüßige Holstin, schmatzte den Sohn einmal pflichtgemäß ab und fragte:
"Goud Wetter gehabt?" -- "El ja!" -- "Hast viel 'kotzt?" fragte darauf die
spartanische Mutter, -- "Gaiht!" (geht an!) erwiederte der Blondkopf mit dem
breiten Phlegma eines al!en Salzw.isserfuhrmannS, und weiter ward vou der
Sache nicht gesprochen. Zur kaltblütigen Zähigkeit dieses Menschenschlages gesellt sich
übrigens eine gehörige Portion Verwegenheit nud ttuteruehmnugslust. Interessante
Beispiele liefert jede Familienchronik. Da ist der Rheder B., ein altes, spindel¬
dürres Männchen, der zur Zeit der Kontinentalsperre in einer kleinen Volle, einer
wahren Nußschale, deu gefährlichen Schmuggelhandel zwischen England und Ham¬
burg trieb. Er baut jetzt weit und breit die besten Schnellsegler, und vou seiner
Scetunde erzählt man sich märchenhafte Dinge, denn er riecht am Tauwerk und am
Leckwasser des heimkehrenden Schiffes, in welche Gewässer es verschlagen gewesen,
und sagt den Wind 48 Stunden voraus. Da ist Capitän "Seewolf"
und Beinamen, dessen tollkühne Abenteuer einen zehnbäadigen Roman füllen würden.
Im vorigen Jahr, am 3. April, Morgens Punkt 9 Uhr brachte ein dänisches
Kriegsschiff mit einem Kanonenschuß die Kriegserklärung und legte sich blockirend
vor den Neustädter Hafen. Am andern Abend hatten bereits zwei junge Schiffer
in aller Stille einen Brander angefertigt, den sie vor Mondaufgang dem Feind in
die Sternluken zu treiben entschlossen waren. Das Brandboot soll mit großem
Geschick gebaut und der Erfolg, bei der Enge des Fahrwassers, höchst wahr¬
scheinlich gewesen sein; die garnisonölose Stadt befaß aber keine zehn Gewehre


1818 eine gewaltige Feuersbrunst und legte Neustadt bis ans den letzten Ballen
in Asche. Dies Ereigniß bildet den Wendepunkt, und welchem in Neustadt die
Fabel aufhört und die Geschichte beginnt.

Mau sieht der jetzigen Stadt ihre Jugend an; die moderne Schmucklosigkeit
ihrer einstöckigen Steinhäuser aber läßt den allgemeinen Wohlstand kaum errathe».
Wie überall in Holstein, so fließt auch die hiesige Wohlhabenheit nicht lediglich
aus dem Mangel an Übervölkerung, sondern ist eben so sehr dem wirthlichen und
nüchternen Charakter des Volkes zuzuschreiben. Die meisten Bürger haben Hans
und Hos sich auf der See erobert; mancher schwimmt seine zehn, zwölf Jahre zwischen
Norwegen und Schottland, Dänemark und Finnland herum und legt uach jeder
Fahrt, was er vou seiner „Heier" (Löhnung) als Capitän, Steuermann oder selbst
als gemeiner Matrose erspart, so lange zurück, bis er deu Südwester an den
Nagel hängen und das Tau und Nuder mit Pflug und Spaten vertauschen kann.
Seine Jungen aber schickt er, sobald sie construirt sind, ohne viel Rücksicht ans
Wind und Wetter zur Probe aufs Meer, und ich habe bemerkt, daß die Mutter
bei solchen Gelegenheiten um ihre Küchlein nicht besorgter sind als die Väter.
So hat Nachbar Klaas unlängst seinen „unfreiwilligen" dreizehnjährigen Jungen
zum ersten Mal gleich bis Königsberg fahren lassen, und ich hatte Gelegenheit,
dem Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn beizuwohnen. Die Klaasiu, eine hoch-
kuochige, breitfüßige Holstin, schmatzte den Sohn einmal pflichtgemäß ab und fragte:
„Goud Wetter gehabt?" — „El ja!" — „Hast viel 'kotzt?" fragte darauf die
spartanische Mutter, — „Gaiht!" (geht an!) erwiederte der Blondkopf mit dem
breiten Phlegma eines al!en Salzw.isserfuhrmannS, und weiter ward vou der
Sache nicht gesprochen. Zur kaltblütigen Zähigkeit dieses Menschenschlages gesellt sich
übrigens eine gehörige Portion Verwegenheit nud ttuteruehmnugslust. Interessante
Beispiele liefert jede Familienchronik. Da ist der Rheder B., ein altes, spindel¬
dürres Männchen, der zur Zeit der Kontinentalsperre in einer kleinen Volle, einer
wahren Nußschale, deu gefährlichen Schmuggelhandel zwischen England und Ham¬
burg trieb. Er baut jetzt weit und breit die besten Schnellsegler, und vou seiner
Scetunde erzählt man sich märchenhafte Dinge, denn er riecht am Tauwerk und am
Leckwasser des heimkehrenden Schiffes, in welche Gewässer es verschlagen gewesen,
und sagt den Wind 48 Stunden voraus. Da ist Capitän „Seewolf"
und Beinamen, dessen tollkühne Abenteuer einen zehnbäadigen Roman füllen würden.
Im vorigen Jahr, am 3. April, Morgens Punkt 9 Uhr brachte ein dänisches
Kriegsschiff mit einem Kanonenschuß die Kriegserklärung und legte sich blockirend
vor den Neustädter Hafen. Am andern Abend hatten bereits zwei junge Schiffer
in aller Stille einen Brander angefertigt, den sie vor Mondaufgang dem Feind in
die Sternluken zu treiben entschlossen waren. Das Brandboot soll mit großem
Geschick gebaut und der Erfolg, bei der Enge des Fahrwassers, höchst wahr¬
scheinlich gewesen sein; die garnisonölose Stadt befaß aber keine zehn Gewehre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/437>, abgerufen am 03.07.2024.