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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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ein Vollschiff mit drei Masten lagert ... selbst ein plattdeutsches Gemüth muß da
sentimental werde". Man kann sich aber denk'en, wie selten diese Spazicrpfade
einsam bleiben, wenn man weist, daß hier eine Besatzung von WO kriegslustiger
Jägern auf eine Bevölkerung von 3W0 Seelen kommt.

Neustadt, der größte Ort im östlichen, mit Rittergütern übersäeten Theil des
Herzogthums, war in uralten Zeiten ein Seeräubernest. Auf der buschigen Insel in¬
mitten der ovalen Bucht, die zwischen der Stadt und den Außenhansern sich einwärts
ins Land gießt und durch eine überbrückte Wassereuge mit der Rhede in Ver¬
bindung steht, zeigt man die Trümmer einer Burg, wo die Piraten ihre Beute
bargen. Die Stadt lag damals hinter der innern Bucht und hieß Krempe: war
aber eine reiche und blühende Residenz, deun ihre Herren, die Seeräuber, sollen nicht
nur gut Schleswig-holsteiuisch gesinnt, sondern anch kühn und mächtig gewesen sein,
und die skandinavischen Flaggen zitterten vor ihren Enterhaken. Da beging
irgend ein heil, römischer Ncichskaiser die Dummheit -- wie deren jeder schockweise
beging -- und zerstörte mit großem Geld- und Blutaufwand das Seeräuberuest,
welches den Grund zu einer deutschen Flötete hätte legen können. Krempe geriet!)
in Verfall -- wie seiner Zeit Tyrus, Carthago, Venedig, oder wie einst Kopen¬
hagen verfallen wird, wenn es sich nicht zu Deutschland bekehret -- und ist heute
ein armseliges, vou "Jnseen" (Frohubaueru) bewohntes Dorf mit eiuer rührend
hübschen altertümlichen Kirche, die sich das Unglück ihrer Gründer so zu Herzen
nahm, daß der viereckige Thurm mit dem byzantinisch-geformten Portal wenigstens
klaftertief im Nasen eingesunken ist; und geht das so fort, wird man in ein paar
hundert Jahren wie ein Dieb durchs Fenster in die Kirche einsteigen müssen,
bis zuletzt der Thurm selbst den Schwalben und Störchen die Herberge kündigen
wird und die im Kreis herumstehenden Linden ihr Laub aufs Dach streuen werden.
Die (Anwohner der verfallenen Residenz wurden allmählich zahme Fischer und
Scesuhrleutc und bauten, der Bequemlichkeit wegen, ihre Häuser an die Rhede,
und nannten den neuen Aufenthalt Neustadt. Aber Neustadt war im vorigen Jahr¬
hundert -- die Chronik hat hier eine kleine Lücke, da sich in der Zwischenzeit
nichts Großes begab -- schon sehr alt und ehrwürdig, mit vielstöckigeu erker-
und laubeureichen reichsstädtisch auSgeschuörlelteu hölzernen Gebäuden; den adeligen
Emigranten aus Frankreich, die in den neunziger Jahren zu Tausenden herströmten,
um ein verborgenes Asyl zu suchen, gefiel es auch ungemein gut; und sie ver¬
führten hier, bis zum Einmarsch der Jacobiner in Hamburg, ein mehr lustiges
als gottgefälliges Leben. Jedennoch, die Gäste brachten der Gegend keinen
Schaden, sie ließen viel Gold im Lande, aber die Einwohner hüteten sich weislich,
etwas Anderes von ihnen anzunehmen: weder Tanz-, Parlir- und Complimcntir-,
noch sonstige galante Künste. Nur an den holsteinischen Rittern, die mit dieser
Gattung Franzose" aufrichtig sympathisirtcu, soll etwas von der Gesinnung, wenn
auch nicht vom Geist, des alten Frankreichs hangen geblieben sein. Endlich kam


ein Vollschiff mit drei Masten lagert ... selbst ein plattdeutsches Gemüth muß da
sentimental werde». Man kann sich aber denk'en, wie selten diese Spazicrpfade
einsam bleiben, wenn man weist, daß hier eine Besatzung von WO kriegslustiger
Jägern auf eine Bevölkerung von 3W0 Seelen kommt.

Neustadt, der größte Ort im östlichen, mit Rittergütern übersäeten Theil des
Herzogthums, war in uralten Zeiten ein Seeräubernest. Auf der buschigen Insel in¬
mitten der ovalen Bucht, die zwischen der Stadt und den Außenhansern sich einwärts
ins Land gießt und durch eine überbrückte Wassereuge mit der Rhede in Ver¬
bindung steht, zeigt man die Trümmer einer Burg, wo die Piraten ihre Beute
bargen. Die Stadt lag damals hinter der innern Bucht und hieß Krempe: war
aber eine reiche und blühende Residenz, deun ihre Herren, die Seeräuber, sollen nicht
nur gut Schleswig-holsteiuisch gesinnt, sondern anch kühn und mächtig gewesen sein,
und die skandinavischen Flaggen zitterten vor ihren Enterhaken. Da beging
irgend ein heil, römischer Ncichskaiser die Dummheit — wie deren jeder schockweise
beging — und zerstörte mit großem Geld- und Blutaufwand das Seeräuberuest,
welches den Grund zu einer deutschen Flötete hätte legen können. Krempe geriet!)
in Verfall — wie seiner Zeit Tyrus, Carthago, Venedig, oder wie einst Kopen¬
hagen verfallen wird, wenn es sich nicht zu Deutschland bekehret — und ist heute
ein armseliges, vou „Jnseen" (Frohubaueru) bewohntes Dorf mit eiuer rührend
hübschen altertümlichen Kirche, die sich das Unglück ihrer Gründer so zu Herzen
nahm, daß der viereckige Thurm mit dem byzantinisch-geformten Portal wenigstens
klaftertief im Nasen eingesunken ist; und geht das so fort, wird man in ein paar
hundert Jahren wie ein Dieb durchs Fenster in die Kirche einsteigen müssen,
bis zuletzt der Thurm selbst den Schwalben und Störchen die Herberge kündigen
wird und die im Kreis herumstehenden Linden ihr Laub aufs Dach streuen werden.
Die (Anwohner der verfallenen Residenz wurden allmählich zahme Fischer und
Scesuhrleutc und bauten, der Bequemlichkeit wegen, ihre Häuser an die Rhede,
und nannten den neuen Aufenthalt Neustadt. Aber Neustadt war im vorigen Jahr¬
hundert — die Chronik hat hier eine kleine Lücke, da sich in der Zwischenzeit
nichts Großes begab — schon sehr alt und ehrwürdig, mit vielstöckigeu erker-
und laubeureichen reichsstädtisch auSgeschuörlelteu hölzernen Gebäuden; den adeligen
Emigranten aus Frankreich, die in den neunziger Jahren zu Tausenden herströmten,
um ein verborgenes Asyl zu suchen, gefiel es auch ungemein gut; und sie ver¬
führten hier, bis zum Einmarsch der Jacobiner in Hamburg, ein mehr lustiges
als gottgefälliges Leben. Jedennoch, die Gäste brachten der Gegend keinen
Schaden, sie ließen viel Gold im Lande, aber die Einwohner hüteten sich weislich,
etwas Anderes von ihnen anzunehmen: weder Tanz-, Parlir- und Complimcntir-,
noch sonstige galante Künste. Nur an den holsteinischen Rittern, die mit dieser
Gattung Franzose» aufrichtig sympathisirtcu, soll etwas von der Gesinnung, wenn
auch nicht vom Geist, des alten Frankreichs hangen geblieben sein. Endlich kam


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/436>, abgerufen am 01.07.2024.