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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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"DieFraazvsen kämpfen seit einem halben Jahrhundert für ein Prinzip, und
'dennoch stehen sie heute fast eben dort wo sie 179-4 gestanden, und wissen nicht,
wem sie die junge Republik an den Hals werfen sollen. Hätten aber die Fran¬
zosen jene Massen materieller und geistiger Kräfte, die in diesen großen Kämpfen
verarbeitet wurden, der Ausbildung und Veredelung des französischen Volkes ge¬
widmet, so -hätten heute die politischen und sozialen Fragen schon ihre Lösung
gefunden, und zwar auf friedlichem Wege, durch die Kraft der aller Geister sich
bemächtigenden Idee, durch den einstimmigen wahrhaft souveränen Willen der
ganzen Nation." "Und wie wollen Sie dies auf unsern Kampf anwenden?"
frug ich etwas ungeduldig. "Das sollen Sie sogleich erfahren," versetzte mein
Gegner. "Seitdem ich mit dem Zustand der europäischen Völker näher bekannt
wurde, bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß die zahlreichen, in den ein¬
fachsten Staatsformen eristirenden slavische" Stämme, die deu Norden und Osten
dieses Welttheils bewohnen, eine" entscheidenden Einfluß auf die Zukunft desselben
ausüben werden, und nur von der Richtung, welche der Kraft dieser Völker ge¬
geben wird, häugt es ab, ob dieser Einfluß ein destruktiver oder ein wohlthätiger,
das alternde Leben der civilisirten Völker verjüngender werden soll. Ich meine
nicht die Unterjochung Europas durch Nußland, unsere Zeit ist keine für Er¬
oberer günstige, und unsere Erschlaffung von jener der Römer unter Romulus
Augustulus sehr verschieden. We"u daher Rußlands Czar mit seinen Eroberuugs-
pläueu offen hervorzutreten bestimmt wird, so kauu der Erfolg uur ein Sturz des
Petersburger Thrones, und der Zerfall der aus hundert Völkern zusammenge¬
ketteten Monarchie sein; dann aber kommt die Zeit, wo ganze große Völker¬
schaften für sich handeln werden, und sollte daun die ungeschwächte nach Einheit
strebende, aber rohe und von egoistischen Führern irregeleitete Kraft der slavi¬
schen Völker mit der krankhaften Civilisation des Westens in Conflikt gerathen,
so erleben wir einen wüthenden Racenkampf, der nur mit der völligen Ver¬
nichtung der einen oder der andern Partei en^en kauu. Wolle" wir also
diesem mächtigen Strom eine wohlthuende Richtung geben, so müssen wir ihm
ein geregeltes Bett von den vielen Felsstücken und Sandbänken reinigen, welche
seine Strömung begrenzen, wir Müssen die zerstörenden Leidenschaften durch die
edlern des schaffenden Geistes verdrängen; wir müssen bei den slavischen Völkern
dnrch nationale Bildung und nationale Kunst ein moralisches Selbstgefühl schaf¬
fen, und sie die Waffen des Geistes zu handhaben lehren. Diese neuen, edlen
Leidenschaften werde" sie deu westlichen Völker", die ihnen auf diesem Wege vor¬
ausgegangen, näher führen, und jeder Kampf, der dann zwischen ihnen entstehen
könnte, wird mehr ein belebender als zerstörender sein. Unser Stamm zählt be¬
reits in Polen, Ungarn und Böhmen in dein Gebiete der Wissenschaft "ud Lite¬
ratur viele anerkannte Größen. Diese Männer trachten dahin, die verschiedenen


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„DieFraazvsen kämpfen seit einem halben Jahrhundert für ein Prinzip, und
'dennoch stehen sie heute fast eben dort wo sie 179-4 gestanden, und wissen nicht,
wem sie die junge Republik an den Hals werfen sollen. Hätten aber die Fran¬
zosen jene Massen materieller und geistiger Kräfte, die in diesen großen Kämpfen
verarbeitet wurden, der Ausbildung und Veredelung des französischen Volkes ge¬
widmet, so -hätten heute die politischen und sozialen Fragen schon ihre Lösung
gefunden, und zwar auf friedlichem Wege, durch die Kraft der aller Geister sich
bemächtigenden Idee, durch den einstimmigen wahrhaft souveränen Willen der
ganzen Nation." „Und wie wollen Sie dies auf unsern Kampf anwenden?"
frug ich etwas ungeduldig. „Das sollen Sie sogleich erfahren," versetzte mein
Gegner. „Seitdem ich mit dem Zustand der europäischen Völker näher bekannt
wurde, bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß die zahlreichen, in den ein¬
fachsten Staatsformen eristirenden slavische« Stämme, die deu Norden und Osten
dieses Welttheils bewohnen, eine» entscheidenden Einfluß auf die Zukunft desselben
ausüben werden, und nur von der Richtung, welche der Kraft dieser Völker ge¬
geben wird, häugt es ab, ob dieser Einfluß ein destruktiver oder ein wohlthätiger,
das alternde Leben der civilisirten Völker verjüngender werden soll. Ich meine
nicht die Unterjochung Europas durch Nußland, unsere Zeit ist keine für Er¬
oberer günstige, und unsere Erschlaffung von jener der Römer unter Romulus
Augustulus sehr verschieden. We»u daher Rußlands Czar mit seinen Eroberuugs-
pläueu offen hervorzutreten bestimmt wird, so kauu der Erfolg uur ein Sturz des
Petersburger Thrones, und der Zerfall der aus hundert Völkern zusammenge¬
ketteten Monarchie sein; dann aber kommt die Zeit, wo ganze große Völker¬
schaften für sich handeln werden, und sollte daun die ungeschwächte nach Einheit
strebende, aber rohe und von egoistischen Führern irregeleitete Kraft der slavi¬
schen Völker mit der krankhaften Civilisation des Westens in Conflikt gerathen,
so erleben wir einen wüthenden Racenkampf, der nur mit der völligen Ver¬
nichtung der einen oder der andern Partei en^en kauu. Wolle» wir also
diesem mächtigen Strom eine wohlthuende Richtung geben, so müssen wir ihm
ein geregeltes Bett von den vielen Felsstücken und Sandbänken reinigen, welche
seine Strömung begrenzen, wir Müssen die zerstörenden Leidenschaften durch die
edlern des schaffenden Geistes verdrängen; wir müssen bei den slavischen Völkern
dnrch nationale Bildung und nationale Kunst ein moralisches Selbstgefühl schaf¬
fen, und sie die Waffen des Geistes zu handhaben lehren. Diese neuen, edlen
Leidenschaften werde» sie deu westlichen Völker», die ihnen auf diesem Wege vor¬
ausgegangen, näher führen, und jeder Kampf, der dann zwischen ihnen entstehen
könnte, wird mehr ein belebender als zerstörender sein. Unser Stamm zählt be¬
reits in Polen, Ungarn und Böhmen in dein Gebiete der Wissenschaft »ud Lite¬
ratur viele anerkannte Größen. Diese Männer trachten dahin, die verschiedenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/203>, abgerufen am 03.07.2024.