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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Wir können an die Treue des Bildes glauben, das Irving von der Persön¬
lichkeit des Propheten entwirft, und doch die Metamorphosen begreifen, die mit
der von ihm gestifteten'Religion vorgegangen sind. Schon bei Lebzeiten Maho-
med'S, von dem Zeitpunkte an, wo Syrien erobert war, wurde der Islam durch
den kriegerischen Fanatismus seiner apostolischen Feldherrn ein Glaube des Schwer¬
tes, der entweder bekehrte oder vernichtete. Wie durch die Persönlichkeit seiner
jedesmalige,: Oberpriester, so wird er noch mehr durch die Individualität der be¬
kehrten Stämme modificirt. Man würde falsch urtheilen, die stumpft lluempfäug-
lichkcit für Kunst, Wissenschaft und materiellen Fortschritt, die das türkische
Kaiserreich bezeichnete, lediglich dem Einfluß des Kvraus zur Last zu legen. Die
glänzende Califenzeit und die Blüthe Spaniens unter den Mauren sind ein Be¬
weis, daß dieselbe Religion bei verschiedenen Völkern, je uach der Art ihrer
geistigen und physischen Lebenskraft, ganz ungleiche Wirkungen hervorzubringen
im Stande ist.

Von mehr unmittelbarem Interesse für die Politik des Tages ist ein touristi¬
sches Werk von Mr. Mac Farlaue, welches ebenfalls bei Murray erschien: "Die
Türkei und ihre Bestimmung" ('l'rukciv ama it8 vksUn^, 2 vol.) Der Verfasser
kennt den Orient seit dem Jahre 1828 und gab damals ein Werk über Constan-
tinopel heraus, welches reich an treffenden Beobachtungen ist. Seitdem kam die
von Mahmud begonnene Ncformpvlitik erst recht in Schwung und Mac Farlaue
war begierig, durch den Augenschein sich von der hoffnungsvollen Verjüngung zu
überzeugen, die nach türkeufteuudlicheu Schilderungen im Reiche Othmau's zu be¬
merken sei. Er schiffte sich im Herbste 1847 nach Constantinopel ein und kehrte
im Sommer 48 wieder nach England zurück. Im Ganzen widmete er eilf Monate
dem Studium der türkischen Zustände. Das Resultat ist ein trauriges; die Todten¬
glocke der hohen Pforte klingt aus jeder Zeile des Buches heraus. Wenn der
Fragmcntist die Illusionen der Philhellenen unbarmherzig zerreißt und Mit geist¬
reicher Schärfe darthut, daß Griechenland nicht scheintodt, souderu wirklich maus¬
todt war, als die Diplomatie es zum europäische" Staatenleben wach galvauisirte,
so klingi das Urtheil des Engländers über die Türkei noch trostloser, weil es sich
ans Thatsachen stützt, die kaum eiuen Widerspruch leiden. Fattmerayer sprach
den Grieche" das hellenische Geblüt, er sprach ihnen die Fähigkeit nationaler
Entwickelung ab; letzteres Verdict greift mehr oder weniger dem Urtheil der Zu-
kunft vor. Mac Farlaue aber zählt die Sandkörner der türkischen Staatenuhr
vor unsern Augen und wir können ungefähr den Moment berechnen, wann das
letzte Korn abgelaufen sein muß.

Daß die vielgepriesene" Reformen der Türkei auf dem Papier oder Perga-
ment vou Gul-Chanes geblieben sind, ist schon oft gesagt worden. In Constan-
tinopel wie in dem kleinasiatischen Paschalik Brussa hatte der Reisende Gelegen¬
heit, dieselbe Willkür, Naubsucht, Verschleuderung und viehische Grausamkeit der


Wir können an die Treue des Bildes glauben, das Irving von der Persön¬
lichkeit des Propheten entwirft, und doch die Metamorphosen begreifen, die mit
der von ihm gestifteten'Religion vorgegangen sind. Schon bei Lebzeiten Maho-
med'S, von dem Zeitpunkte an, wo Syrien erobert war, wurde der Islam durch
den kriegerischen Fanatismus seiner apostolischen Feldherrn ein Glaube des Schwer¬
tes, der entweder bekehrte oder vernichtete. Wie durch die Persönlichkeit seiner
jedesmalige,: Oberpriester, so wird er noch mehr durch die Individualität der be¬
kehrten Stämme modificirt. Man würde falsch urtheilen, die stumpft lluempfäug-
lichkcit für Kunst, Wissenschaft und materiellen Fortschritt, die das türkische
Kaiserreich bezeichnete, lediglich dem Einfluß des Kvraus zur Last zu legen. Die
glänzende Califenzeit und die Blüthe Spaniens unter den Mauren sind ein Be¬
weis, daß dieselbe Religion bei verschiedenen Völkern, je uach der Art ihrer
geistigen und physischen Lebenskraft, ganz ungleiche Wirkungen hervorzubringen
im Stande ist.

Von mehr unmittelbarem Interesse für die Politik des Tages ist ein touristi¬
sches Werk von Mr. Mac Farlaue, welches ebenfalls bei Murray erschien: „Die
Türkei und ihre Bestimmung" ('l'rukciv ama it8 vksUn^, 2 vol.) Der Verfasser
kennt den Orient seit dem Jahre 1828 und gab damals ein Werk über Constan-
tinopel heraus, welches reich an treffenden Beobachtungen ist. Seitdem kam die
von Mahmud begonnene Ncformpvlitik erst recht in Schwung und Mac Farlaue
war begierig, durch den Augenschein sich von der hoffnungsvollen Verjüngung zu
überzeugen, die nach türkeufteuudlicheu Schilderungen im Reiche Othmau's zu be¬
merken sei. Er schiffte sich im Herbste 1847 nach Constantinopel ein und kehrte
im Sommer 48 wieder nach England zurück. Im Ganzen widmete er eilf Monate
dem Studium der türkischen Zustände. Das Resultat ist ein trauriges; die Todten¬
glocke der hohen Pforte klingt aus jeder Zeile des Buches heraus. Wenn der
Fragmcntist die Illusionen der Philhellenen unbarmherzig zerreißt und Mit geist¬
reicher Schärfe darthut, daß Griechenland nicht scheintodt, souderu wirklich maus¬
todt war, als die Diplomatie es zum europäische» Staatenleben wach galvauisirte,
so klingi das Urtheil des Engländers über die Türkei noch trostloser, weil es sich
ans Thatsachen stützt, die kaum eiuen Widerspruch leiden. Fattmerayer sprach
den Grieche» das hellenische Geblüt, er sprach ihnen die Fähigkeit nationaler
Entwickelung ab; letzteres Verdict greift mehr oder weniger dem Urtheil der Zu-
kunft vor. Mac Farlaue aber zählt die Sandkörner der türkischen Staatenuhr
vor unsern Augen und wir können ungefähr den Moment berechnen, wann das
letzte Korn abgelaufen sein muß.

Daß die vielgepriesene« Reformen der Türkei auf dem Papier oder Perga-
ment vou Gul-Chanes geblieben sind, ist schon oft gesagt worden. In Constan-
tinopel wie in dem kleinasiatischen Paschalik Brussa hatte der Reisende Gelegen¬
heit, dieselbe Willkür, Naubsucht, Verschleuderung und viehische Grausamkeit der


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[0101] Wir können an die Treue des Bildes glauben, das Irving von der Persön¬ lichkeit des Propheten entwirft, und doch die Metamorphosen begreifen, die mit der von ihm gestifteten'Religion vorgegangen sind. Schon bei Lebzeiten Maho- med'S, von dem Zeitpunkte an, wo Syrien erobert war, wurde der Islam durch den kriegerischen Fanatismus seiner apostolischen Feldherrn ein Glaube des Schwer¬ tes, der entweder bekehrte oder vernichtete. Wie durch die Persönlichkeit seiner jedesmalige,: Oberpriester, so wird er noch mehr durch die Individualität der be¬ kehrten Stämme modificirt. Man würde falsch urtheilen, die stumpft lluempfäug- lichkcit für Kunst, Wissenschaft und materiellen Fortschritt, die das türkische Kaiserreich bezeichnete, lediglich dem Einfluß des Kvraus zur Last zu legen. Die glänzende Califenzeit und die Blüthe Spaniens unter den Mauren sind ein Be¬ weis, daß dieselbe Religion bei verschiedenen Völkern, je uach der Art ihrer geistigen und physischen Lebenskraft, ganz ungleiche Wirkungen hervorzubringen im Stande ist. Von mehr unmittelbarem Interesse für die Politik des Tages ist ein touristi¬ sches Werk von Mr. Mac Farlaue, welches ebenfalls bei Murray erschien: „Die Türkei und ihre Bestimmung" ('l'rukciv ama it8 vksUn^, 2 vol.) Der Verfasser kennt den Orient seit dem Jahre 1828 und gab damals ein Werk über Constan- tinopel heraus, welches reich an treffenden Beobachtungen ist. Seitdem kam die von Mahmud begonnene Ncformpvlitik erst recht in Schwung und Mac Farlaue war begierig, durch den Augenschein sich von der hoffnungsvollen Verjüngung zu überzeugen, die nach türkeufteuudlicheu Schilderungen im Reiche Othmau's zu be¬ merken sei. Er schiffte sich im Herbste 1847 nach Constantinopel ein und kehrte im Sommer 48 wieder nach England zurück. Im Ganzen widmete er eilf Monate dem Studium der türkischen Zustände. Das Resultat ist ein trauriges; die Todten¬ glocke der hohen Pforte klingt aus jeder Zeile des Buches heraus. Wenn der Fragmcntist die Illusionen der Philhellenen unbarmherzig zerreißt und Mit geist¬ reicher Schärfe darthut, daß Griechenland nicht scheintodt, souderu wirklich maus¬ todt war, als die Diplomatie es zum europäische» Staatenleben wach galvauisirte, so klingi das Urtheil des Engländers über die Türkei noch trostloser, weil es sich ans Thatsachen stützt, die kaum eiuen Widerspruch leiden. Fattmerayer sprach den Grieche» das hellenische Geblüt, er sprach ihnen die Fähigkeit nationaler Entwickelung ab; letzteres Verdict greift mehr oder weniger dem Urtheil der Zu- kunft vor. Mac Farlaue aber zählt die Sandkörner der türkischen Staatenuhr vor unsern Augen und wir können ungefähr den Moment berechnen, wann das letzte Korn abgelaufen sein muß. Daß die vielgepriesene« Reformen der Türkei auf dem Papier oder Perga- ment vou Gul-Chanes geblieben sind, ist schon oft gesagt worden. In Constan- tinopel wie in dem kleinasiatischen Paschalik Brussa hatte der Reisende Gelegen¬ heit, dieselbe Willkür, Naubsucht, Verschleuderung und viehische Grausamkeit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/101>, abgerufen am 22.07.2024.