Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

obersten und untersten Beamten zu beobachten, wie vor zwanzig Jahren. Er
erzählt ein gutes Häuflein märchenhaft klingender Beispiele, die er als Augen¬
zeuge sich notirt hat. Das einzige Resultat der Ncfvrmpolitik besteht darin, daß
die Türken in Constantinopel ihre stolze Nationaltracht mit der schäbigen Franken¬
kleidung und ihr einst so pompöses, zuweilen sackgrobes Benehmen mit einem sehr
friedlichen zuvorkommender Wesen vertauscht haben. Diese Umwandlung scheint
aber weniger Frucht fortgeschrittener Civilisation, als eine Folge von Mutlosig¬
keit, Zerknirschung und Resignation zu sein. "Es ist aus mit den OSmauliö," sagen
sie, "unser Schwert ist gebrochen, die Gianrs werden uns nach Asien treiben,
dahin, wo die Wiege unseres Stammes steht. Was ist zu thu"? KismoU (Fa-
tum!)" rufen sie; "es steht geschrieben," und bescheiden gehen sie dem Franken
ans dem Wege, in dein sie den künftigen Herrn ihres Landes scheuen. Die
Türkei fing auf dein Todtenbette sich zu modernisiren an, sie wurde duldsam, als
ihr die Zähne ausgebrochen waren; ihre Neforuipoliiik war nichts als das Ge¬
ständnis) ihrer Schwäche.

Der Türkei würde aber die Orthodoxie jetzt so wenig mehr ftommeil wie die
Aufklärung. Trotz Weintrinken und Schweiuefleischessen, vermögen es die Moha-
medaner mit den Najahs in einem sehr wichtigen Punkt nicht aufzunehmen: in
der Fruchtbarkeit. Was wird die Eifersucht, was wird der Schutz der Gro߬
mächte der Türkei nützen, wenn es keine Türken mehr in Europa gibt? Die
mohamedanische Bevölkerung in Rumelien ist in stetiger Abnahme begriffen; in
eben so stetiger Zunahme die der Najahs. Griechische und armenische Familien
sind in der Regel mit einem Dutzend Kinder gesegnet, während die türkische neben
an selten zwei zählt. Die Conscription, der Schrecken aller türkischen Mütter,
soll an dieser Kiuderarinnth mitschuldig sein; daß die künstlich verursachte Abor¬
tion unter den Türkinnen allgemein grassirt, ist ein öffentliches Geheimniß. Dieses
Laster hat noch eine ander" Quelle als die Conscription: den Pauperismus. Der
Grieche und Armenier ist dem Türken in jedem Industriezweig, in Fleiß und Ge¬
wandtheit zehnfach überlegen und nährt sich behaglich unter Umständen, die den
Mohamedaner in buchstäbliche Hungersnoth versetzen. --

Mac Farlaue sieht in dieser Schwindsucht der Türkei eine Versuchung von
solcher Gewalt für Rußland, daß er kaum begreift, wie Nikolay bis jetzt im
Stande war, ihr zu widerstehen. Er verkündigt die Zeit als bevorstehend, wo
die Versuchung stärker sein wird, als die Rücksicht ans das europäische Gleichge¬
wicht und die Furcht vor den Hütern desselben im Westen. Er räth daher als
Mittel, einen europäischen Krieg wegen der türkischen Erbschaft zu vermeiden, ei¬
nen Congreß an, ans dem das Testament der Pforte von den Erben entworfen
und dem Erblasser zur Unterschrift vorgelegt würde.

Wie lauge aber würde der orientalische Congreß dauern, ehe sich die Par¬
teien vereinbaren? Wir fürchten, eines schönen Morgens erhält die europäische


obersten und untersten Beamten zu beobachten, wie vor zwanzig Jahren. Er
erzählt ein gutes Häuflein märchenhaft klingender Beispiele, die er als Augen¬
zeuge sich notirt hat. Das einzige Resultat der Ncfvrmpolitik besteht darin, daß
die Türken in Constantinopel ihre stolze Nationaltracht mit der schäbigen Franken¬
kleidung und ihr einst so pompöses, zuweilen sackgrobes Benehmen mit einem sehr
friedlichen zuvorkommender Wesen vertauscht haben. Diese Umwandlung scheint
aber weniger Frucht fortgeschrittener Civilisation, als eine Folge von Mutlosig¬
keit, Zerknirschung und Resignation zu sein. „Es ist aus mit den OSmauliö," sagen
sie, „unser Schwert ist gebrochen, die Gianrs werden uns nach Asien treiben,
dahin, wo die Wiege unseres Stammes steht. Was ist zu thu»? KismoU (Fa-
tum!)" rufen sie; „es steht geschrieben," und bescheiden gehen sie dem Franken
ans dem Wege, in dein sie den künftigen Herrn ihres Landes scheuen. Die
Türkei fing auf dein Todtenbette sich zu modernisiren an, sie wurde duldsam, als
ihr die Zähne ausgebrochen waren; ihre Neforuipoliiik war nichts als das Ge¬
ständnis) ihrer Schwäche.

Der Türkei würde aber die Orthodoxie jetzt so wenig mehr ftommeil wie die
Aufklärung. Trotz Weintrinken und Schweiuefleischessen, vermögen es die Moha-
medaner mit den Najahs in einem sehr wichtigen Punkt nicht aufzunehmen: in
der Fruchtbarkeit. Was wird die Eifersucht, was wird der Schutz der Gro߬
mächte der Türkei nützen, wenn es keine Türken mehr in Europa gibt? Die
mohamedanische Bevölkerung in Rumelien ist in stetiger Abnahme begriffen; in
eben so stetiger Zunahme die der Najahs. Griechische und armenische Familien
sind in der Regel mit einem Dutzend Kinder gesegnet, während die türkische neben
an selten zwei zählt. Die Conscription, der Schrecken aller türkischen Mütter,
soll an dieser Kiuderarinnth mitschuldig sein; daß die künstlich verursachte Abor¬
tion unter den Türkinnen allgemein grassirt, ist ein öffentliches Geheimniß. Dieses
Laster hat noch eine ander« Quelle als die Conscription: den Pauperismus. Der
Grieche und Armenier ist dem Türken in jedem Industriezweig, in Fleiß und Ge¬
wandtheit zehnfach überlegen und nährt sich behaglich unter Umständen, die den
Mohamedaner in buchstäbliche Hungersnoth versetzen. —

Mac Farlaue sieht in dieser Schwindsucht der Türkei eine Versuchung von
solcher Gewalt für Rußland, daß er kaum begreift, wie Nikolay bis jetzt im
Stande war, ihr zu widerstehen. Er verkündigt die Zeit als bevorstehend, wo
die Versuchung stärker sein wird, als die Rücksicht ans das europäische Gleichge¬
wicht und die Furcht vor den Hütern desselben im Westen. Er räth daher als
Mittel, einen europäischen Krieg wegen der türkischen Erbschaft zu vermeiden, ei¬
nen Congreß an, ans dem das Testament der Pforte von den Erben entworfen
und dem Erblasser zur Unterschrift vorgelegt würde.

Wie lauge aber würde der orientalische Congreß dauern, ehe sich die Par¬
teien vereinbaren? Wir fürchten, eines schönen Morgens erhält die europäische


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0102" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185438"/>
          <p xml:id="ID_284" prev="#ID_283"> obersten und untersten Beamten zu beobachten, wie vor zwanzig Jahren. Er<lb/>
erzählt ein gutes Häuflein märchenhaft klingender Beispiele, die er als Augen¬<lb/>
zeuge sich notirt hat. Das einzige Resultat der Ncfvrmpolitik besteht darin, daß<lb/>
die Türken in Constantinopel ihre stolze Nationaltracht mit der schäbigen Franken¬<lb/>
kleidung und ihr einst so pompöses, zuweilen sackgrobes Benehmen mit einem sehr<lb/>
friedlichen zuvorkommender Wesen vertauscht haben. Diese Umwandlung scheint<lb/>
aber weniger Frucht fortgeschrittener Civilisation, als eine Folge von Mutlosig¬<lb/>
keit, Zerknirschung und Resignation zu sein. &#x201E;Es ist aus mit den OSmauliö," sagen<lb/>
sie, &#x201E;unser Schwert ist gebrochen, die Gianrs werden uns nach Asien treiben,<lb/>
dahin, wo die Wiege unseres Stammes steht. Was ist zu thu»? KismoU (Fa-<lb/>
tum!)" rufen sie; &#x201E;es steht geschrieben," und bescheiden gehen sie dem Franken<lb/>
ans dem Wege, in dein sie den künftigen Herrn ihres Landes scheuen. Die<lb/>
Türkei fing auf dein Todtenbette sich zu modernisiren an, sie wurde duldsam, als<lb/>
ihr die Zähne ausgebrochen waren; ihre Neforuipoliiik war nichts als das Ge¬<lb/>
ständnis) ihrer Schwäche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_285"> Der Türkei würde aber die Orthodoxie jetzt so wenig mehr ftommeil wie die<lb/>
Aufklärung. Trotz Weintrinken und Schweiuefleischessen, vermögen es die Moha-<lb/>
medaner mit den Najahs in einem sehr wichtigen Punkt nicht aufzunehmen: in<lb/>
der Fruchtbarkeit. Was wird die Eifersucht, was wird der Schutz der Gro߬<lb/>
mächte der Türkei nützen, wenn es keine Türken mehr in Europa gibt? Die<lb/>
mohamedanische Bevölkerung in Rumelien ist in stetiger Abnahme begriffen; in<lb/>
eben so stetiger Zunahme die der Najahs. Griechische und armenische Familien<lb/>
sind in der Regel mit einem Dutzend Kinder gesegnet, während die türkische neben<lb/>
an selten zwei zählt. Die Conscription, der Schrecken aller türkischen Mütter,<lb/>
soll an dieser Kiuderarinnth mitschuldig sein; daß die künstlich verursachte Abor¬<lb/>
tion unter den Türkinnen allgemein grassirt, ist ein öffentliches Geheimniß. Dieses<lb/>
Laster hat noch eine ander« Quelle als die Conscription: den Pauperismus. Der<lb/>
Grieche und Armenier ist dem Türken in jedem Industriezweig, in Fleiß und Ge¬<lb/>
wandtheit zehnfach überlegen und nährt sich behaglich unter Umständen, die den<lb/>
Mohamedaner in buchstäbliche Hungersnoth versetzen. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_286"> Mac Farlaue sieht in dieser Schwindsucht der Türkei eine Versuchung von<lb/>
solcher Gewalt für Rußland, daß er kaum begreift, wie Nikolay bis jetzt im<lb/>
Stande war, ihr zu widerstehen. Er verkündigt die Zeit als bevorstehend, wo<lb/>
die Versuchung stärker sein wird, als die Rücksicht ans das europäische Gleichge¬<lb/>
wicht und die Furcht vor den Hütern desselben im Westen. Er räth daher als<lb/>
Mittel, einen europäischen Krieg wegen der türkischen Erbschaft zu vermeiden, ei¬<lb/>
nen Congreß an, ans dem das Testament der Pforte von den Erben entworfen<lb/>
und dem Erblasser zur Unterschrift vorgelegt würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_287" next="#ID_288"> Wie lauge aber würde der orientalische Congreß dauern, ehe sich die Par¬<lb/>
teien vereinbaren? Wir fürchten, eines schönen Morgens erhält die europäische</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0102] obersten und untersten Beamten zu beobachten, wie vor zwanzig Jahren. Er erzählt ein gutes Häuflein märchenhaft klingender Beispiele, die er als Augen¬ zeuge sich notirt hat. Das einzige Resultat der Ncfvrmpolitik besteht darin, daß die Türken in Constantinopel ihre stolze Nationaltracht mit der schäbigen Franken¬ kleidung und ihr einst so pompöses, zuweilen sackgrobes Benehmen mit einem sehr friedlichen zuvorkommender Wesen vertauscht haben. Diese Umwandlung scheint aber weniger Frucht fortgeschrittener Civilisation, als eine Folge von Mutlosig¬ keit, Zerknirschung und Resignation zu sein. „Es ist aus mit den OSmauliö," sagen sie, „unser Schwert ist gebrochen, die Gianrs werden uns nach Asien treiben, dahin, wo die Wiege unseres Stammes steht. Was ist zu thu»? KismoU (Fa- tum!)" rufen sie; „es steht geschrieben," und bescheiden gehen sie dem Franken ans dem Wege, in dein sie den künftigen Herrn ihres Landes scheuen. Die Türkei fing auf dein Todtenbette sich zu modernisiren an, sie wurde duldsam, als ihr die Zähne ausgebrochen waren; ihre Neforuipoliiik war nichts als das Ge¬ ständnis) ihrer Schwäche. Der Türkei würde aber die Orthodoxie jetzt so wenig mehr ftommeil wie die Aufklärung. Trotz Weintrinken und Schweiuefleischessen, vermögen es die Moha- medaner mit den Najahs in einem sehr wichtigen Punkt nicht aufzunehmen: in der Fruchtbarkeit. Was wird die Eifersucht, was wird der Schutz der Gro߬ mächte der Türkei nützen, wenn es keine Türken mehr in Europa gibt? Die mohamedanische Bevölkerung in Rumelien ist in stetiger Abnahme begriffen; in eben so stetiger Zunahme die der Najahs. Griechische und armenische Familien sind in der Regel mit einem Dutzend Kinder gesegnet, während die türkische neben an selten zwei zählt. Die Conscription, der Schrecken aller türkischen Mütter, soll an dieser Kiuderarinnth mitschuldig sein; daß die künstlich verursachte Abor¬ tion unter den Türkinnen allgemein grassirt, ist ein öffentliches Geheimniß. Dieses Laster hat noch eine ander« Quelle als die Conscription: den Pauperismus. Der Grieche und Armenier ist dem Türken in jedem Industriezweig, in Fleiß und Ge¬ wandtheit zehnfach überlegen und nährt sich behaglich unter Umständen, die den Mohamedaner in buchstäbliche Hungersnoth versetzen. — Mac Farlaue sieht in dieser Schwindsucht der Türkei eine Versuchung von solcher Gewalt für Rußland, daß er kaum begreift, wie Nikolay bis jetzt im Stande war, ihr zu widerstehen. Er verkündigt die Zeit als bevorstehend, wo die Versuchung stärker sein wird, als die Rücksicht ans das europäische Gleichge¬ wicht und die Furcht vor den Hütern desselben im Westen. Er räth daher als Mittel, einen europäischen Krieg wegen der türkischen Erbschaft zu vermeiden, ei¬ nen Congreß an, ans dem das Testament der Pforte von den Erben entworfen und dem Erblasser zur Unterschrift vorgelegt würde. Wie lauge aber würde der orientalische Congreß dauern, ehe sich die Par¬ teien vereinbaren? Wir fürchten, eines schönen Morgens erhält die europäische

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/102
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/102>, abgerufen am 24.08.2024.