Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.Einleitung; das Stück kam nicht auf die Bühne. Mit dem Jahr 1829 dagegen Der Zweck des modernen (christlichen) Drama's ist nicht, wie bei den Alten, Diese Grundsätze erhalten ihren wahren Inhalt erst durch die Ausführung. 62*
Einleitung; das Stück kam nicht auf die Bühne. Mit dem Jahr 1829 dagegen Der Zweck des modernen (christlichen) Drama's ist nicht, wie bei den Alten, Diese Grundsätze erhalten ihren wahren Inhalt erst durch die Ausführung. 62*
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Einleitung; das Stück kam nicht auf die Bühne. Mit dem Jahr 1829 dagegen
betritt die neue Kunst die Bretter; Hugo's Marion de Lorme, Herncini, Dumas'
Heinrich und Christine waren eben so viel große Schlachten, in denen die
Romantik ihre Gegner überwältigte. Folgendes sind, abgesehen von dem literatur¬
historischen Gefasel, welches keine Erwähnung verdient, die Grundsätze, welche die
Vorrede zum Cromwell als Maßstab der neuen Poesie angibt.
Der Zweck des modernen (christlichen) Drama's ist nicht, wie bei den Alten,
das Ideal, sondern die Wahrheit, die Realität. Die Realität entspringt aus der
Vereinigung des Erhabenen nud des Grotesken. Real ist z. B., wenn der Richter
sagt: in moi-t! et irllons ti»ol-. Freilich soll der Poet eine Auswahl treffen;
aber nicht nach dem Maßstab des Schönen, sondern des Charakteristischen. Cha¬
rakteristisch ist, was die Farbe der Localität und der Cultur einer bestimmten
Zeit bis ins Detail ausgearbeitet an sich trägt. In diesem Sinne muß das
Costüm, die Scene, die Redensarten, die Vorstellungsweise charakteristisch wieder¬
gegeben werden. Das wird einen Wechsel der Decorationen und einen Reichthum
an Figuren erfordern, der ans dem Drama freilich nicht ein einfach sittliches
Rechenexempel werden läßt, der aber die Einheit des höhern (symbolischen) Ge¬
dankens nicht zu stören braucht. Sie wird einen beständigen Wechsel der Stim¬
mungen und Erregungen mit sich bringen, der zwar die Geschmacks-Philister
beleidigt, der aber der „Wirklichkeit" entspricht. Denn auch in der „Wirklichkeit"
folgt Lachen auf Weinen, Regen auf Sonnenschein und eine Erwartung löst die
andere ab.
Diese Grundsätze erhalten ihren wahren Inhalt erst durch die Ausführung.
Man möge bei dem historischen Drama der französischen Romantik.nicht an Goethe
oder Schiller, selbst nicht an Shakespeare denken; ja nicht an W. Scott, eher an
Bulwer. Jene Dichter haben ernste Studien gemacht über die Zeit, welche sie dar¬
stellen wollen, und haben sich in den Geist derselben zu versetzen gesucht; aber sie
verschonen uns mit den gelehrten Citaten, die sie bei der Gelegenheit in ihre
Collectaneen eingetragen haben, sie verschonen uns mit den Anekdoten, die nicht
zur Sache gehören, und weit entfernt, die Originalität ans die Spitze zu treiben,
suchen sie bei jeder historischen Größe die allgemein menschliche Seite herauszukeh-
ren. Man hat es Schiller häufig vorgeworfen, daß er seine Helden aus uMnst-
lerischer Menschenliebe humanisirt habe; in der Ausführung gebe ich das zu, im
Princip hatte er Recht. Wir würden seinem Wallenstein eine höhere menschliche
Berechtigung zuerkannt haben, wenn er ihn härter gehalten hätte; daß der Dichter
uns aber mit dem lächerlichen Jargon in der Sprache und Vorstellungsweise des
l7. Jahrhunderts verschont, wissen wir ihm Dank. Nur diejenige historische Eigen¬
thümlichkeit hat Bürgerrecht in der Kunst — und, erlaube ich mir hinzuzusetzen —
in der Wissenschaft, die mit der Entwickelung des allgemeinen Geistes der Mensch¬
heit in einer wesentlichen Verbindung steht, die bloße Rarität bleibt seitab liegen.
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