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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Man vergleiche Dumas' Caligula mit Shakespeare's Antonius, Hugo's Cromwell
mit W. Scott's Woodstock -- offenbar dem Werk, aus welchem die Conception
des ersteren herzuleiten ist, um sich über den Unterschied klar zu werden: ein
Unterschied, den man bei den eigentlichen Geschichtschreibern eben so wahrneh¬
men kann.

Sonst bestand die historische Gründlichkeit darin, daß man bei jedem großen
Ereigniß sich gewissenhaft fragte, in welchem Verhältniß stand es zu den Zustän¬
den, ans denen es hervorging? was für Ideen hatten diejenigen, die dazu mit¬
wirkten, und wie verhielten sich diese Ideen zu dem, was in der That erreicht
wurde? Heutzutage scheint man die Gründlichkeit anders zu begreifen. Man
untersucht, was für Hosen die Leute anhatten, wie sie ihren Bart trugen, was
für Licblingsflüche sie gebrauchten, wo sie ihre Abende zubrachten, wenn sie nicht
mit Staatsgeschäften zu thun hatten; ferner, wie der Saal dekorirt war, in wel¬
chem dies oder jenes geschah, in welchem Styl man das Haus, in dem er stand,
gebaut hatte, wer der Baumeister war, welche Theile desselben man hatte restau-
riren müssen n. s> w> Früher hatte man bei der historischen Darstellung einen
bestimmten Gegenstand, und traf die Auswahl der Personen und Begebenheiten,
die mau darin verflocht, nach dem Grad der Wichtigkeit, der ihnen in Bezug auf
diesen Gegenstand zukam; jetzt will man Alles auf einmal schildern, Krieg, Lite¬
ratur, Mode, gesellschaftliche Vergnügungen, Privatleben, Staatsgeschichte, Anek¬
doten -- alles das bunt durcheinander, ohne die Ordnung eines leitenden Ge¬
dankens.

Es ist nicht zu leugnen, daß Walter Scott einen großen Einfluß ans diese
historische Malerei gehabt hat. Aber man nimmt bei ihm das Costüm hin, weil
es wirkliche Menschen kleidet; man läßt sich die Anekdote gefallen, weil sie einem
wirklichen Ereigniß dient. Wenn aber Bulwer z. B. in seinem Devereux ein
Zeitalter dadurch zu schildern glaubt, daß er sämmtliche Collectaneen, die er aus
Büchern der verschiedenartigsten Gattung in Betreff dieser Zeit excerpirt hat, in
bunter Reihe an den losen Faden der Begebenheit anheftet; wenn er alle mög¬
lichen Personen, die damals lebten, mit der entsprechenden Anekdote aufführt, so
verlieren wir über der irrationeller Mannigfaltigkeit des Materials den Sinn der
Zeit vollständig aus den Augen. In noch gründlicheren Romanen, wie z.B. die
der Miß Anne Bray wird man zu der Vermuthung geleitet, sie seien ausschließlich
für Schneider, Sattler und Dekorationsmaler bestimmt. Ungefähr denselben Cha¬
rakter haben die historischen Werke Capefigue's, des Romautikus unter den Ge¬
schichtschreibern.

Victor Hugo's Cromwell zeigt, wohin die geistlose Detailmalerei führen
kann. Wenn Walter Scott das Charakterbild einer Zeit in epischer Breite aus¬
führt, und eine Person nach der andern auf die Bühne bringt, um allen Seiten
gerecht zu werden, so ist doch immer in der Zusammenstellung derselben eine weise


Man vergleiche Dumas' Caligula mit Shakespeare's Antonius, Hugo's Cromwell
mit W. Scott's Woodstock — offenbar dem Werk, aus welchem die Conception
des ersteren herzuleiten ist, um sich über den Unterschied klar zu werden: ein
Unterschied, den man bei den eigentlichen Geschichtschreibern eben so wahrneh¬
men kann.

Sonst bestand die historische Gründlichkeit darin, daß man bei jedem großen
Ereigniß sich gewissenhaft fragte, in welchem Verhältniß stand es zu den Zustän¬
den, ans denen es hervorging? was für Ideen hatten diejenigen, die dazu mit¬
wirkten, und wie verhielten sich diese Ideen zu dem, was in der That erreicht
wurde? Heutzutage scheint man die Gründlichkeit anders zu begreifen. Man
untersucht, was für Hosen die Leute anhatten, wie sie ihren Bart trugen, was
für Licblingsflüche sie gebrauchten, wo sie ihre Abende zubrachten, wenn sie nicht
mit Staatsgeschäften zu thun hatten; ferner, wie der Saal dekorirt war, in wel¬
chem dies oder jenes geschah, in welchem Styl man das Haus, in dem er stand,
gebaut hatte, wer der Baumeister war, welche Theile desselben man hatte restau-
riren müssen n. s> w> Früher hatte man bei der historischen Darstellung einen
bestimmten Gegenstand, und traf die Auswahl der Personen und Begebenheiten,
die mau darin verflocht, nach dem Grad der Wichtigkeit, der ihnen in Bezug auf
diesen Gegenstand zukam; jetzt will man Alles auf einmal schildern, Krieg, Lite¬
ratur, Mode, gesellschaftliche Vergnügungen, Privatleben, Staatsgeschichte, Anek¬
doten — alles das bunt durcheinander, ohne die Ordnung eines leitenden Ge¬
dankens.

Es ist nicht zu leugnen, daß Walter Scott einen großen Einfluß ans diese
historische Malerei gehabt hat. Aber man nimmt bei ihm das Costüm hin, weil
es wirkliche Menschen kleidet; man läßt sich die Anekdote gefallen, weil sie einem
wirklichen Ereigniß dient. Wenn aber Bulwer z. B. in seinem Devereux ein
Zeitalter dadurch zu schildern glaubt, daß er sämmtliche Collectaneen, die er aus
Büchern der verschiedenartigsten Gattung in Betreff dieser Zeit excerpirt hat, in
bunter Reihe an den losen Faden der Begebenheit anheftet; wenn er alle mög¬
lichen Personen, die damals lebten, mit der entsprechenden Anekdote aufführt, so
verlieren wir über der irrationeller Mannigfaltigkeit des Materials den Sinn der
Zeit vollständig aus den Augen. In noch gründlicheren Romanen, wie z.B. die
der Miß Anne Bray wird man zu der Vermuthung geleitet, sie seien ausschließlich
für Schneider, Sattler und Dekorationsmaler bestimmt. Ungefähr denselben Cha¬
rakter haben die historischen Werke Capefigue's, des Romautikus unter den Ge¬
schichtschreibern.

Victor Hugo's Cromwell zeigt, wohin die geistlose Detailmalerei führen
kann. Wenn Walter Scott das Charakterbild einer Zeit in epischer Breite aus¬
führt, und eine Person nach der andern auf die Bühne bringt, um allen Seiten
gerecht zu werden, so ist doch immer in der Zusammenstellung derselben eine weise


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[0495] Man vergleiche Dumas' Caligula mit Shakespeare's Antonius, Hugo's Cromwell mit W. Scott's Woodstock — offenbar dem Werk, aus welchem die Conception des ersteren herzuleiten ist, um sich über den Unterschied klar zu werden: ein Unterschied, den man bei den eigentlichen Geschichtschreibern eben so wahrneh¬ men kann. Sonst bestand die historische Gründlichkeit darin, daß man bei jedem großen Ereigniß sich gewissenhaft fragte, in welchem Verhältniß stand es zu den Zustän¬ den, ans denen es hervorging? was für Ideen hatten diejenigen, die dazu mit¬ wirkten, und wie verhielten sich diese Ideen zu dem, was in der That erreicht wurde? Heutzutage scheint man die Gründlichkeit anders zu begreifen. Man untersucht, was für Hosen die Leute anhatten, wie sie ihren Bart trugen, was für Licblingsflüche sie gebrauchten, wo sie ihre Abende zubrachten, wenn sie nicht mit Staatsgeschäften zu thun hatten; ferner, wie der Saal dekorirt war, in wel¬ chem dies oder jenes geschah, in welchem Styl man das Haus, in dem er stand, gebaut hatte, wer der Baumeister war, welche Theile desselben man hatte restau- riren müssen n. s> w> Früher hatte man bei der historischen Darstellung einen bestimmten Gegenstand, und traf die Auswahl der Personen und Begebenheiten, die mau darin verflocht, nach dem Grad der Wichtigkeit, der ihnen in Bezug auf diesen Gegenstand zukam; jetzt will man Alles auf einmal schildern, Krieg, Lite¬ ratur, Mode, gesellschaftliche Vergnügungen, Privatleben, Staatsgeschichte, Anek¬ doten — alles das bunt durcheinander, ohne die Ordnung eines leitenden Ge¬ dankens. Es ist nicht zu leugnen, daß Walter Scott einen großen Einfluß ans diese historische Malerei gehabt hat. Aber man nimmt bei ihm das Costüm hin, weil es wirkliche Menschen kleidet; man läßt sich die Anekdote gefallen, weil sie einem wirklichen Ereigniß dient. Wenn aber Bulwer z. B. in seinem Devereux ein Zeitalter dadurch zu schildern glaubt, daß er sämmtliche Collectaneen, die er aus Büchern der verschiedenartigsten Gattung in Betreff dieser Zeit excerpirt hat, in bunter Reihe an den losen Faden der Begebenheit anheftet; wenn er alle mög¬ lichen Personen, die damals lebten, mit der entsprechenden Anekdote aufführt, so verlieren wir über der irrationeller Mannigfaltigkeit des Materials den Sinn der Zeit vollständig aus den Augen. In noch gründlicheren Romanen, wie z.B. die der Miß Anne Bray wird man zu der Vermuthung geleitet, sie seien ausschließlich für Schneider, Sattler und Dekorationsmaler bestimmt. Ungefähr denselben Cha¬ rakter haben die historischen Werke Capefigue's, des Romautikus unter den Ge¬ schichtschreibern. Victor Hugo's Cromwell zeigt, wohin die geistlose Detailmalerei führen kann. Wenn Walter Scott das Charakterbild einer Zeit in epischer Breite aus¬ führt, und eine Person nach der andern auf die Bühne bringt, um allen Seiten gerecht zu werden, so ist doch immer in der Zusammenstellung derselben eine weise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/495>, abgerufen am 15.01.2025.