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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Beiträge zur Geschichte der französischen Romantik.



ii.
Das historische Costüm.

(Fortsetzung zu Bictor Hugo.)

Die neue Schule, die seit 1825 eine Reihe angesehener Poeten und Kritiker
in den Kampf gegen Boileau führte -- ich nenne hier nur Emile Deschamps,
Uebersetzer des Dante, Se. Beuve, Alfred de Musset, Edgar Quinet u. f. w.,
mußte ihre besten Lorbeern auf dem Schlachtfeld suchen, wo das kampfrichtende
Volk unmittelbar in Bewegung gesetzt wird, auf der Bühne. Das Theater war
seit Voltaire's Zeiten in fortdauerndem Verfall; einzelne Talente, wie Beaumar¬
chais, hatten keine nachhaltige Wirkung. Die Kaiserzeit war reich an Versuchen:
A. W. Schlegel hatte in dem Kolumbus von Nepomucene Lemercier die Morgen¬
röthe einer neuen Zeit begrüßt, weil die sogenannten Aristotelischen drei Einheiten
darin mit Bewußtsein vernachlässigt waren, aber die bloße Opposition gegen her¬
gebrachte Meinungen reicht nicht aus, wenn sie nicht von einem schöpferischen
Talente unterstützt wird. ES war eben beim Versuch geblieben.

Dagegen hatte die Kunst der Darstellung durch Talma eine neue Richtung
genommen. Er hatte die stereotypen Formen des Anstandes und der bühnenfähi¬
gen Leidenschaft mit künstlerischer Freiheit erweitert, der Declamation Charakter
und Individualität gegeben, das auf alle Zeiten übertragene Nococokostüm durch
das historische ersetzt. Sieht das Publikum ungewohnte Trachten, so gewöhnt es
sich auch an Vorstellungen, die von den üblichen Begriffen abweichen. Nicht mehr
die Akademie, der Gerichtshof über das Schickliche, sondern die Gelehrsamkeit
übernahm die Kritik. Gleichzeitig verbreitete Walter Scott durch den historischen
Roman den Sinn für das geschichtliche und geographische Detail durch ganz Eu¬
ropa, und der Cultus Shakespeares, der von Deutschland aus sich allmäliq auf
die Nachbarn übertrug, arbeitete der socialen Revolution, welche die Verrücken
abschaffte, in die Hände, indem durch Beides die Empfänglichkeit für das Cha¬
rakteristische geweckt ward. Ein nicht unwesentlicher Umstand, der die neue Kunst


Grenzboten. IV. 1849. g2
Beiträge zur Geschichte der französischen Romantik.



ii.
Das historische Costüm.

(Fortsetzung zu Bictor Hugo.)

Die neue Schule, die seit 1825 eine Reihe angesehener Poeten und Kritiker
in den Kampf gegen Boileau führte — ich nenne hier nur Emile Deschamps,
Uebersetzer des Dante, Se. Beuve, Alfred de Musset, Edgar Quinet u. f. w.,
mußte ihre besten Lorbeern auf dem Schlachtfeld suchen, wo das kampfrichtende
Volk unmittelbar in Bewegung gesetzt wird, auf der Bühne. Das Theater war
seit Voltaire's Zeiten in fortdauerndem Verfall; einzelne Talente, wie Beaumar¬
chais, hatten keine nachhaltige Wirkung. Die Kaiserzeit war reich an Versuchen:
A. W. Schlegel hatte in dem Kolumbus von Nepomucene Lemercier die Morgen¬
röthe einer neuen Zeit begrüßt, weil die sogenannten Aristotelischen drei Einheiten
darin mit Bewußtsein vernachlässigt waren, aber die bloße Opposition gegen her¬
gebrachte Meinungen reicht nicht aus, wenn sie nicht von einem schöpferischen
Talente unterstützt wird. ES war eben beim Versuch geblieben.

Dagegen hatte die Kunst der Darstellung durch Talma eine neue Richtung
genommen. Er hatte die stereotypen Formen des Anstandes und der bühnenfähi¬
gen Leidenschaft mit künstlerischer Freiheit erweitert, der Declamation Charakter
und Individualität gegeben, das auf alle Zeiten übertragene Nococokostüm durch
das historische ersetzt. Sieht das Publikum ungewohnte Trachten, so gewöhnt es
sich auch an Vorstellungen, die von den üblichen Begriffen abweichen. Nicht mehr
die Akademie, der Gerichtshof über das Schickliche, sondern die Gelehrsamkeit
übernahm die Kritik. Gleichzeitig verbreitete Walter Scott durch den historischen
Roman den Sinn für das geschichtliche und geographische Detail durch ganz Eu¬
ropa, und der Cultus Shakespeares, der von Deutschland aus sich allmäliq auf
die Nachbarn übertrug, arbeitete der socialen Revolution, welche die Verrücken
abschaffte, in die Hände, indem durch Beides die Empfänglichkeit für das Cha¬
rakteristische geweckt ward. Ein nicht unwesentlicher Umstand, der die neue Kunst


Grenzboten. IV. 1849. g2
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[0492] Beiträge zur Geschichte der französischen Romantik. ii. Das historische Costüm. (Fortsetzung zu Bictor Hugo.) Die neue Schule, die seit 1825 eine Reihe angesehener Poeten und Kritiker in den Kampf gegen Boileau führte — ich nenne hier nur Emile Deschamps, Uebersetzer des Dante, Se. Beuve, Alfred de Musset, Edgar Quinet u. f. w., mußte ihre besten Lorbeern auf dem Schlachtfeld suchen, wo das kampfrichtende Volk unmittelbar in Bewegung gesetzt wird, auf der Bühne. Das Theater war seit Voltaire's Zeiten in fortdauerndem Verfall; einzelne Talente, wie Beaumar¬ chais, hatten keine nachhaltige Wirkung. Die Kaiserzeit war reich an Versuchen: A. W. Schlegel hatte in dem Kolumbus von Nepomucene Lemercier die Morgen¬ röthe einer neuen Zeit begrüßt, weil die sogenannten Aristotelischen drei Einheiten darin mit Bewußtsein vernachlässigt waren, aber die bloße Opposition gegen her¬ gebrachte Meinungen reicht nicht aus, wenn sie nicht von einem schöpferischen Talente unterstützt wird. ES war eben beim Versuch geblieben. Dagegen hatte die Kunst der Darstellung durch Talma eine neue Richtung genommen. Er hatte die stereotypen Formen des Anstandes und der bühnenfähi¬ gen Leidenschaft mit künstlerischer Freiheit erweitert, der Declamation Charakter und Individualität gegeben, das auf alle Zeiten übertragene Nococokostüm durch das historische ersetzt. Sieht das Publikum ungewohnte Trachten, so gewöhnt es sich auch an Vorstellungen, die von den üblichen Begriffen abweichen. Nicht mehr die Akademie, der Gerichtshof über das Schickliche, sondern die Gelehrsamkeit übernahm die Kritik. Gleichzeitig verbreitete Walter Scott durch den historischen Roman den Sinn für das geschichtliche und geographische Detail durch ganz Eu¬ ropa, und der Cultus Shakespeares, der von Deutschland aus sich allmäliq auf die Nachbarn übertrug, arbeitete der socialen Revolution, welche die Verrücken abschaffte, in die Hände, indem durch Beides die Empfänglichkeit für das Cha¬ rakteristische geweckt ward. Ein nicht unwesentlicher Umstand, der die neue Kunst Grenzboten. IV. 1849. g2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/492>, abgerufen am 15.01.2025.