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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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rung, indem man den Individuen oder Massen immer nur ein einziges Schibo-
leth einprägte und überschätzen lehrte. Auch hat man sich der verschiedenen Ge-
müthsverletzungen, der Erinnerung an Unbill und Kränkung, an Elend und Be¬
drückaugen bedient; oder man hat deu Ehrgeiz, die Vaterlandsliebe, das Rechts¬
gefühl aufgestachelt. Es gibt sogar auf beiden extremen Seiten Solche, welche der
Ansicht sind, daß ohne Erregung von Fanatismus große politische oder religiöse
Benegnngen nicht mit Erfolg durchzusetzen seien. Dafür kann man einzelne Bei¬
spiele anführen, dagegen aber den Zweifel aufwerfen, ob die Früchte eines solchen
Erfolges nicht immer giftig waren? Auch gilt dieser Satz nicht für alle Fälle.
Die Befreiung Nordamerikas und die Siege der modernen Humanität sind ohne
Fanatismus erfochten worden.

Die natürlichen Folgen und Ausgänge des Fanatismus sind wie
bei anderen Krankheiten, entweder Genesung oder Nachkrankheit oder (wenigstens
geistiger) Tod. Alle drei kommen sowohl an einzelnen Individuen, als in den
Volksmassen vor. Die Heilung erfolgt, wenn der Anfall sich ausgetobt hat,
durch Erschöpfung und durch bessere Erkenntniß. So hat sich das deutsche Volk
von dem religiösen Wahnsinn des Mittelalters allmälig durch Abspannung, wie
durch Wissenschaft und Aufklärung erholt. Wenn dereinst die naturwissenschaft¬
liche Bildung, diese Gegnerin alles Unklaren und Unfreien, allgemein herrschen
wird: werden anch die Fanatiker seltner werden. Schon die Beschäftigung mit
Thatsachen, das Reisen, der Handel, der gesteigerte Umgang der Menschen unter¬
einander, zerstören die Wurzeln davon. -- Aus ähnlichen Gründen heilt zuweilen
eine ernste materielle Sorge, welche den Menschen auf naheliegendes und That¬
sächliches hinleitet: so für das Individuum dringende häusliche Angelegenheiten,
für Völker Kriegs- und Belagerungszustände. Nach dem dreißigjährigen Kriege
ward das deutsche Volk stumpf und unempfindlich, geistig träge und kraftlos.
Dies gehört freilich schon zu den krankhaften Nachwehen. Der Fanatismus kann,
wenn er ausgetobt hat, in stumpfe Gleichgiltigkeit und sogar in Blödsinn über¬
gehen , in den moralischen Tod; oder er kann als förmliche fixe Idee und Mono¬
manie in einem engen Vorstellungskreis beharrend, zur unheilbaren Seelenstörung
werden. Auch für diese üblen Ausgänge zeigen sich Analogien im Völkerleben,
z. B. die Nachwehen der Hussitenkriege in Böhmen und der heutige Verfall der
Türkei, deun das Leben der Nationen wird durch Krankheiten gestört, ja ver¬
nichtet, ganz wie bei einzelnen Menschen.

Die "Behandlung des Fanatismus" ist entweder rein empirisch, d.h.
quacksalberisch, oder rationell. Die letztere gründet sich auf das erkannte Wesen
der Krankheit und richtet sich also theils gegen die Gläubigkeit, theils gegen die
Einseitigkeit, theils gegen die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Fanatikers. Vor
allem aber muß sie die Ursachen beseitigen, welche das Uebel hervorriefen und
unterhalten.


rung, indem man den Individuen oder Massen immer nur ein einziges Schibo-
leth einprägte und überschätzen lehrte. Auch hat man sich der verschiedenen Ge-
müthsverletzungen, der Erinnerung an Unbill und Kränkung, an Elend und Be¬
drückaugen bedient; oder man hat deu Ehrgeiz, die Vaterlandsliebe, das Rechts¬
gefühl aufgestachelt. Es gibt sogar auf beiden extremen Seiten Solche, welche der
Ansicht sind, daß ohne Erregung von Fanatismus große politische oder religiöse
Benegnngen nicht mit Erfolg durchzusetzen seien. Dafür kann man einzelne Bei¬
spiele anführen, dagegen aber den Zweifel aufwerfen, ob die Früchte eines solchen
Erfolges nicht immer giftig waren? Auch gilt dieser Satz nicht für alle Fälle.
Die Befreiung Nordamerikas und die Siege der modernen Humanität sind ohne
Fanatismus erfochten worden.

Die natürlichen Folgen und Ausgänge des Fanatismus sind wie
bei anderen Krankheiten, entweder Genesung oder Nachkrankheit oder (wenigstens
geistiger) Tod. Alle drei kommen sowohl an einzelnen Individuen, als in den
Volksmassen vor. Die Heilung erfolgt, wenn der Anfall sich ausgetobt hat,
durch Erschöpfung und durch bessere Erkenntniß. So hat sich das deutsche Volk
von dem religiösen Wahnsinn des Mittelalters allmälig durch Abspannung, wie
durch Wissenschaft und Aufklärung erholt. Wenn dereinst die naturwissenschaft¬
liche Bildung, diese Gegnerin alles Unklaren und Unfreien, allgemein herrschen
wird: werden anch die Fanatiker seltner werden. Schon die Beschäftigung mit
Thatsachen, das Reisen, der Handel, der gesteigerte Umgang der Menschen unter¬
einander, zerstören die Wurzeln davon. — Aus ähnlichen Gründen heilt zuweilen
eine ernste materielle Sorge, welche den Menschen auf naheliegendes und That¬
sächliches hinleitet: so für das Individuum dringende häusliche Angelegenheiten,
für Völker Kriegs- und Belagerungszustände. Nach dem dreißigjährigen Kriege
ward das deutsche Volk stumpf und unempfindlich, geistig träge und kraftlos.
Dies gehört freilich schon zu den krankhaften Nachwehen. Der Fanatismus kann,
wenn er ausgetobt hat, in stumpfe Gleichgiltigkeit und sogar in Blödsinn über¬
gehen , in den moralischen Tod; oder er kann als förmliche fixe Idee und Mono¬
manie in einem engen Vorstellungskreis beharrend, zur unheilbaren Seelenstörung
werden. Auch für diese üblen Ausgänge zeigen sich Analogien im Völkerleben,
z. B. die Nachwehen der Hussitenkriege in Böhmen und der heutige Verfall der
Türkei, deun das Leben der Nationen wird durch Krankheiten gestört, ja ver¬
nichtet, ganz wie bei einzelnen Menschen.

Die „Behandlung des Fanatismus" ist entweder rein empirisch, d.h.
quacksalberisch, oder rationell. Die letztere gründet sich auf das erkannte Wesen
der Krankheit und richtet sich also theils gegen die Gläubigkeit, theils gegen die
Einseitigkeit, theils gegen die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Fanatikers. Vor
allem aber muß sie die Ursachen beseitigen, welche das Uebel hervorriefen und
unterhalten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/180>, abgerufen am 15.01.2025.