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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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streitbar ist des Deutschen Nationalcharakter, im Ganzen betrachtet, der
melancholische. Eine gewisse Unempfindlichkeit, ein geringes Maß augen¬
blicklicher Erregbarkeit hat das deutsche Volk oft lange Jahre und Jahrhunderte
hindurch unter Unbilden und Mißgeschick hinbrüten und anscheinend schlummern
lassen. Aber überall, wo der Deutsche in der weiten Welt lebt, in allen germa¬
nischen Kolonien und in allen Perioden der deutschen Geschichte zeigt sich wieder
eine zähe Ausdauer dieses Volkes, und Unermüdlichkeit bei Bewältigung von
Hindernissen. Man kann uns kein energieloses Volk nennen. Diese nachhaltige
Hartnäckigkeit bei dem einmal Ergriffenen hat das deutsche Volk auch da bewährt,
wo es sich in Glaubensfragen betheiligte, zu welchen es ohnedies wegen seiner
Gemüthlichkeit und seiner spekulativen Neigung zum Ueberstnnlichen eine besondere
Anlage besitzt. Daher ist der Fanatismus von jeher für unsere Nation eine be¬
sonders gefährliche Krankheit. -- Ob wirklich der Bau des Gehirns, die
phrenologische Anlage bei der Neigung zum Fanatismus im Spiele ist, muß
späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ein guter Beobachter, der franzö¬
sische Arzt Brayer hat in seinem Buche ("Neue "rupes " ecmsttuitinoplo") den
Versuch gemacht, die fanatische Gemüthsart der Türken rein aus phrenologischen
Gründen (sogar aus der Einwirkung des Turbans auf die Schädelform) zu erklä¬
ren, was wir dahingestellt sein lassen.

Unter den schädlichen Einflüssen, welche den Fanatismus vorbereiten
und wecken, steht Unwissenheit oben an, besonders wenn sie mit einer durch
Volkssitte oder Erziehung genährten Gläubigkeit zusammentrifft. Der Unwissenheit
nahe steht in dieser Hinsicht eine einseitige Bildung, welche eine Mehrzahl
von Bildungselementen ausschließt, besonders wenn dabei die thatsächlichen und
das Beobachtungsvermögen schärfenden Wissenszweige, die Naturwissenschaften,
ausgeschlossen werden. Daher disponirt die einseitig religiöse und die einseitig
humanistische Erziehung sehr zum Fanatismus.

Ferner aber die Jsolirung der Individuen wie der Völker. Mönchs- und
Nonnenklöster, Einsiedeleien, die Stamm- und Kastenunterschiede, die Sprach¬
verschiedenheiten der Völker, haben die furchtbarsten Beispiele des Fanatismus ge¬
boren. Der in seiner Wüste einsam brütende Araber mußte für den mcchomeda-
nischen Fanatismus besonders empfänglich werden.

Eine dritte Quelle sind Gemüths Verletzungen. Getäuschte Eitelkeit,
betrogne Hoffnungen, verletzter Ehrgeiz, die Sorge um bedrohten Besitz, um den
Lebensunterhalt, eine gedrückte bürgerliche und finanzielle Lage, haben schon oft,
auch in den neuesten Zeiten, Veranlassung zu Ausbrüchen des Fanatismus
gegeben.

Deshalb ist es auch möglich, diesen Seelenzustand künstlich hervorzu¬
bringen, in einzelnen Personen, wie in den Massen. Dazu hat man theils
Jsolirung benutzt, z. B. die Jesuitenklöster, theils einseitige Bildung und Beleh-


streitbar ist des Deutschen Nationalcharakter, im Ganzen betrachtet, der
melancholische. Eine gewisse Unempfindlichkeit, ein geringes Maß augen¬
blicklicher Erregbarkeit hat das deutsche Volk oft lange Jahre und Jahrhunderte
hindurch unter Unbilden und Mißgeschick hinbrüten und anscheinend schlummern
lassen. Aber überall, wo der Deutsche in der weiten Welt lebt, in allen germa¬
nischen Kolonien und in allen Perioden der deutschen Geschichte zeigt sich wieder
eine zähe Ausdauer dieses Volkes, und Unermüdlichkeit bei Bewältigung von
Hindernissen. Man kann uns kein energieloses Volk nennen. Diese nachhaltige
Hartnäckigkeit bei dem einmal Ergriffenen hat das deutsche Volk auch da bewährt,
wo es sich in Glaubensfragen betheiligte, zu welchen es ohnedies wegen seiner
Gemüthlichkeit und seiner spekulativen Neigung zum Ueberstnnlichen eine besondere
Anlage besitzt. Daher ist der Fanatismus von jeher für unsere Nation eine be¬
sonders gefährliche Krankheit. — Ob wirklich der Bau des Gehirns, die
phrenologische Anlage bei der Neigung zum Fanatismus im Spiele ist, muß
späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ein guter Beobachter, der franzö¬
sische Arzt Brayer hat in seinem Buche („Neue »rupes » ecmsttuitinoplo") den
Versuch gemacht, die fanatische Gemüthsart der Türken rein aus phrenologischen
Gründen (sogar aus der Einwirkung des Turbans auf die Schädelform) zu erklä¬
ren, was wir dahingestellt sein lassen.

Unter den schädlichen Einflüssen, welche den Fanatismus vorbereiten
und wecken, steht Unwissenheit oben an, besonders wenn sie mit einer durch
Volkssitte oder Erziehung genährten Gläubigkeit zusammentrifft. Der Unwissenheit
nahe steht in dieser Hinsicht eine einseitige Bildung, welche eine Mehrzahl
von Bildungselementen ausschließt, besonders wenn dabei die thatsächlichen und
das Beobachtungsvermögen schärfenden Wissenszweige, die Naturwissenschaften,
ausgeschlossen werden. Daher disponirt die einseitig religiöse und die einseitig
humanistische Erziehung sehr zum Fanatismus.

Ferner aber die Jsolirung der Individuen wie der Völker. Mönchs- und
Nonnenklöster, Einsiedeleien, die Stamm- und Kastenunterschiede, die Sprach¬
verschiedenheiten der Völker, haben die furchtbarsten Beispiele des Fanatismus ge¬
boren. Der in seiner Wüste einsam brütende Araber mußte für den mcchomeda-
nischen Fanatismus besonders empfänglich werden.

Eine dritte Quelle sind Gemüths Verletzungen. Getäuschte Eitelkeit,
betrogne Hoffnungen, verletzter Ehrgeiz, die Sorge um bedrohten Besitz, um den
Lebensunterhalt, eine gedrückte bürgerliche und finanzielle Lage, haben schon oft,
auch in den neuesten Zeiten, Veranlassung zu Ausbrüchen des Fanatismus
gegeben.

Deshalb ist es auch möglich, diesen Seelenzustand künstlich hervorzu¬
bringen, in einzelnen Personen, wie in den Massen. Dazu hat man theils
Jsolirung benutzt, z. B. die Jesuitenklöster, theils einseitige Bildung und Beleh-


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[0179] streitbar ist des Deutschen Nationalcharakter, im Ganzen betrachtet, der melancholische. Eine gewisse Unempfindlichkeit, ein geringes Maß augen¬ blicklicher Erregbarkeit hat das deutsche Volk oft lange Jahre und Jahrhunderte hindurch unter Unbilden und Mißgeschick hinbrüten und anscheinend schlummern lassen. Aber überall, wo der Deutsche in der weiten Welt lebt, in allen germa¬ nischen Kolonien und in allen Perioden der deutschen Geschichte zeigt sich wieder eine zähe Ausdauer dieses Volkes, und Unermüdlichkeit bei Bewältigung von Hindernissen. Man kann uns kein energieloses Volk nennen. Diese nachhaltige Hartnäckigkeit bei dem einmal Ergriffenen hat das deutsche Volk auch da bewährt, wo es sich in Glaubensfragen betheiligte, zu welchen es ohnedies wegen seiner Gemüthlichkeit und seiner spekulativen Neigung zum Ueberstnnlichen eine besondere Anlage besitzt. Daher ist der Fanatismus von jeher für unsere Nation eine be¬ sonders gefährliche Krankheit. — Ob wirklich der Bau des Gehirns, die phrenologische Anlage bei der Neigung zum Fanatismus im Spiele ist, muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ein guter Beobachter, der franzö¬ sische Arzt Brayer hat in seinem Buche („Neue »rupes » ecmsttuitinoplo") den Versuch gemacht, die fanatische Gemüthsart der Türken rein aus phrenologischen Gründen (sogar aus der Einwirkung des Turbans auf die Schädelform) zu erklä¬ ren, was wir dahingestellt sein lassen. Unter den schädlichen Einflüssen, welche den Fanatismus vorbereiten und wecken, steht Unwissenheit oben an, besonders wenn sie mit einer durch Volkssitte oder Erziehung genährten Gläubigkeit zusammentrifft. Der Unwissenheit nahe steht in dieser Hinsicht eine einseitige Bildung, welche eine Mehrzahl von Bildungselementen ausschließt, besonders wenn dabei die thatsächlichen und das Beobachtungsvermögen schärfenden Wissenszweige, die Naturwissenschaften, ausgeschlossen werden. Daher disponirt die einseitig religiöse und die einseitig humanistische Erziehung sehr zum Fanatismus. Ferner aber die Jsolirung der Individuen wie der Völker. Mönchs- und Nonnenklöster, Einsiedeleien, die Stamm- und Kastenunterschiede, die Sprach¬ verschiedenheiten der Völker, haben die furchtbarsten Beispiele des Fanatismus ge¬ boren. Der in seiner Wüste einsam brütende Araber mußte für den mcchomeda- nischen Fanatismus besonders empfänglich werden. Eine dritte Quelle sind Gemüths Verletzungen. Getäuschte Eitelkeit, betrogne Hoffnungen, verletzter Ehrgeiz, die Sorge um bedrohten Besitz, um den Lebensunterhalt, eine gedrückte bürgerliche und finanzielle Lage, haben schon oft, auch in den neuesten Zeiten, Veranlassung zu Ausbrüchen des Fanatismus gegeben. Deshalb ist es auch möglich, diesen Seelenzustand künstlich hervorzu¬ bringen, in einzelnen Personen, wie in den Massen. Dazu hat man theils Jsolirung benutzt, z. B. die Jesuitenklöster, theils einseitige Bildung und Beleh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/179>, abgerufen am 15.01.2025.