Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.man, daß auch selbst von einer russischen Gesellschaft die Rede nicht sein kann. Warschau besitzt vier Theater, die Stadt für sich zwei, das kaiserliche Lust¬ man, daß auch selbst von einer russischen Gesellschaft die Rede nicht sein kann. Warschau besitzt vier Theater, die Stadt für sich zwei, das kaiserliche Lust¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0492" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279518"/> <p xml:id="ID_1671" prev="#ID_1670"> man, daß auch selbst von einer russischen Gesellschaft die Rede nicht sein kann.<lb/> Die russischen vierzehn Rangklassen zerreißen das russische Publikum in Warschau,<lb/> wie in Petersburg, bis in seine einzelnsten Theile. Dem Manne von der dritten<lb/> Klasse darf der der vierten nicht von der Seite nahen; folgen kann er ihm. Der<lb/> Mann von der sechsten Klasse stößt energisch durch seine hohe Stirn und Nase<lb/> alles von oder hinter sich, was den acht tieferen Rangklassen angehört, die den<lb/> Adel nicht verleihen. Die Orden haben weniger Einfluß, weil sie zu häufig sind.<lb/> Die breiteste Brust voll Orden wird mit der Frage ignorirt: „in welcher Klasse<lb/> steht er?" Alles was deu tieferen Klassen angehört, darf nur folgen, niemals<lb/> zur Seite gehn. Das ist ein russischer Tact, der vom Fürsten bis zum Unter¬<lb/> offizier, dem Manne der vierzehnten Klasse, hinab beobachtet wird. Der gemeine<lb/> Soldat gehört keiner Klasse an, wird also eigentlich nicht zum Menschengeschlecht<lb/> oder zum Volke gerechnet. Ob der Bürger-, besonders der Gcwerksstand einer<lb/> Klasse zugezählt ist, habe ich leider nicht erkundet, die Kaufmannschaft, in drei<lb/> Gilden getheilt, gehört aber allerdings einigen der niedrigsten Rangklassen an und<lb/> darf daher ihren Stolz haben. Das Klassenwesen ist nach militärischem Maßstabe<lb/> eingerichtet und verleiht militärische Titel. So gehört z. B. der Chef eines Ge-<lb/> richtsdepartemeuts, einer Censurabtheilung oder eines Paßbureaus der sechsten<lb/> Klasse, der der Regimentsvbcrstcn an, wird dnrch diese Klasse adlig und erfreut<lb/> sich des Titels Pulkownik (Oberst), obschon sein Ohr nicht einmal den Knall einer<lb/> Flinte vertragen kann nud seine Hand sich kaum an ein ungewöhnlich großes<lb/> Messer wagen mag. Diese militärisirenden Rangklassen geben bei den Civilbeam¬<lb/> teten zu manchen lächerlichen Erscheinungen Anlaß, welche nur den Nüssen nicht<lb/> auffällig sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1672" next="#ID_1673"> Warschau besitzt vier Theater, die Stadt für sich zwei, das kaiserliche Lust¬<lb/> schloß Lazienki ein offenes im Freien, nach altrömischen Styl erbaut und Amphi¬<lb/> theater genannt, das Schloß des verstorbenen Großfürsten Konstantin (Belvedere)<lb/> ebenfalls eins. Dieses, in welchem seltsamer Weise der weiße polnische Adler auch nach<lb/> der Revolution seinen Sitz behalten hat, war nur für geschlossene Zirkel der vor¬<lb/> nehmsten Herrschaften geöffnet und diente bisweilen den höchsten Herren und Damen<lb/> dazu, ihr schauspielerisches Talent zu prüfen. Allein dies war nur vor der Re¬<lb/> volution der Fall und bietet den Beweis, daß in jener Zeit die freundlichste, un¬<lb/> befangenste Geselligkeit bis in die höchsten Regionen gedrungen war. Die neue<lb/> Zeit mit ihren neuen Verhältnissen hat dieses kleine aber außerordentlich reizende<lb/> schöne Theater in eine Oede verwandelt. Das Amphitheater beim Lustschloß La-<lb/> zienki dient dem allgemeinen Publikum an gewissen Tagen, welche der Fürst PaS-<lb/> kiewitsch bestimmt und an russischen Gallatagen, deren es nur zu viele gibt. Denn<lb/> die Geburth- und Namens-, Krönungs-, Heiraths- und sonstigen Glückstage irgend<lb/> welcher Glieder der kaiserlicher Familie werden auf das strengste auch in Warschau<lb/> gefeiert. Diese Festlichkeiten, welche stets in und beim Lustschloß Lazieuki, der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0492]
man, daß auch selbst von einer russischen Gesellschaft die Rede nicht sein kann.
Die russischen vierzehn Rangklassen zerreißen das russische Publikum in Warschau,
wie in Petersburg, bis in seine einzelnsten Theile. Dem Manne von der dritten
Klasse darf der der vierten nicht von der Seite nahen; folgen kann er ihm. Der
Mann von der sechsten Klasse stößt energisch durch seine hohe Stirn und Nase
alles von oder hinter sich, was den acht tieferen Rangklassen angehört, die den
Adel nicht verleihen. Die Orden haben weniger Einfluß, weil sie zu häufig sind.
Die breiteste Brust voll Orden wird mit der Frage ignorirt: „in welcher Klasse
steht er?" Alles was deu tieferen Klassen angehört, darf nur folgen, niemals
zur Seite gehn. Das ist ein russischer Tact, der vom Fürsten bis zum Unter¬
offizier, dem Manne der vierzehnten Klasse, hinab beobachtet wird. Der gemeine
Soldat gehört keiner Klasse an, wird also eigentlich nicht zum Menschengeschlecht
oder zum Volke gerechnet. Ob der Bürger-, besonders der Gcwerksstand einer
Klasse zugezählt ist, habe ich leider nicht erkundet, die Kaufmannschaft, in drei
Gilden getheilt, gehört aber allerdings einigen der niedrigsten Rangklassen an und
darf daher ihren Stolz haben. Das Klassenwesen ist nach militärischem Maßstabe
eingerichtet und verleiht militärische Titel. So gehört z. B. der Chef eines Ge-
richtsdepartemeuts, einer Censurabtheilung oder eines Paßbureaus der sechsten
Klasse, der der Regimentsvbcrstcn an, wird dnrch diese Klasse adlig und erfreut
sich des Titels Pulkownik (Oberst), obschon sein Ohr nicht einmal den Knall einer
Flinte vertragen kann nud seine Hand sich kaum an ein ungewöhnlich großes
Messer wagen mag. Diese militärisirenden Rangklassen geben bei den Civilbeam¬
teten zu manchen lächerlichen Erscheinungen Anlaß, welche nur den Nüssen nicht
auffällig sind.
Warschau besitzt vier Theater, die Stadt für sich zwei, das kaiserliche Lust¬
schloß Lazienki ein offenes im Freien, nach altrömischen Styl erbaut und Amphi¬
theater genannt, das Schloß des verstorbenen Großfürsten Konstantin (Belvedere)
ebenfalls eins. Dieses, in welchem seltsamer Weise der weiße polnische Adler auch nach
der Revolution seinen Sitz behalten hat, war nur für geschlossene Zirkel der vor¬
nehmsten Herrschaften geöffnet und diente bisweilen den höchsten Herren und Damen
dazu, ihr schauspielerisches Talent zu prüfen. Allein dies war nur vor der Re¬
volution der Fall und bietet den Beweis, daß in jener Zeit die freundlichste, un¬
befangenste Geselligkeit bis in die höchsten Regionen gedrungen war. Die neue
Zeit mit ihren neuen Verhältnissen hat dieses kleine aber außerordentlich reizende
schöne Theater in eine Oede verwandelt. Das Amphitheater beim Lustschloß La-
zienki dient dem allgemeinen Publikum an gewissen Tagen, welche der Fürst PaS-
kiewitsch bestimmt und an russischen Gallatagen, deren es nur zu viele gibt. Denn
die Geburth- und Namens-, Krönungs-, Heiraths- und sonstigen Glückstage irgend
welcher Glieder der kaiserlicher Familie werden auf das strengste auch in Warschau
gefeiert. Diese Festlichkeiten, welche stets in und beim Lustschloß Lazieuki, der
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