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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Uebel nicht zu verhindern sein. Aber wie wäre das möglich? Der Pole in seiner
Zurückgezogenheit weist den Juden von sich ab, der Russe sucht ihn darin zu über¬
bieten. Der Jude soll der rechtlose Diener, ein Wesen sein, welches man benutzt,
um sich gnädig und als Herr zu zeigen. Allein der Jude fühlt sich zu eiuer etwas
besseren Rolle berechtigt. Seine Reichthümer und die Zahl, in welcher er sich am
Orte befindet, sagen ihm, daß er nicht gerade unter den Schuhsohlen irgend Je¬
mandes zu liegen und kriechen brauche. Es drängt ihn, sich mit senkrechter Stirn
neben Jemandem zu stellen. Aber neben wen? weder hier noch dort ist der An¬
schluß möglich. Auch der Deutsche hat seiue feste Stellung verloren und sucht
einen Anhaltepunkt. Zweifelnd steht er zwischen dem Polen und Russen. Das
sittliche Gefühl zieht ihn an diesen, dem er als den Ureinwohner und Eigenthümer
des Landes in dem Herzen das Recht, den Stamm der Gesellschaft zu bilden, zu¬
erkennt. Allein der Pole, im Jammer um seinen Verlust, hat eine Stellung ein¬
genommen, die jedes gesellschaftliche Ansinnen zurückweist. So bleibt ihm nnr
der Anschluß an den Russen. Gleich diesem weist er den Juden von sich ab, als
der Russe, um vor diesem seine Würde nicht zu schmälern. Ans solche Weise ist
der Jude so isolirt als der Pole, nur mit dem Unterschiede, daß er sich nicht
seines freien Willens rühmen kann wie Jener. Die Gesellschaft bilden in War¬
schau zum Theil aber nur noch die Fremdlinge, die Deutschen und Russen, und
zwar in einer Weise, wie sie eben aus der Unnalmlichkcit der Stellungen hervor¬
gehen kann.

> Lange Zeit nach der Revolution fanden in Warschau gar keine geselligen Zu¬
sammenkünfte statt. Unter dem Schwunge der politischen Knute, stand alles ver¬
dutzt, ängstlich, nicht wissend wie viel es wagen dürfe. Die Polen wußte" natür¬
lich am raschesten woran sie waren. Die Deutschen kamen um spätesten zum Be¬
griff, nämlich erst, nachdem die Russen ihnen manchen Beweis der Zuneigung und
des Vertrauens gegeben hatten. Obschon diese Beweise stets etwas stolzer Art
waren, genehmigte sie der zähe Deutsche doch gern und ließ sich durch sie Lust
und Muth machen, etwas für sein gesellschaftliches Bedürfniß zu wagen. So ent¬
standen die beiden Ressourcen, welche gegenwärtig bestehen.

Die "kleine" enthält mehre Hundert, die "große" oder "kaufmännische" über
tausend Mitglieder. Sie sind die beiden einzigen Gesellschaftszirkel und die bei¬
den einzigen Beweise von Drang zur Geselligkeit in dieser Stadt. Ju ihnen
selbst läßt sich das beste Studium des Warschauer Gesellschaftszustaudes machen.
Ich war in beiden Ressourcen mehr als einmal. Die kleine, im Hotel de Drahte,
ist wöchentlich mehre Male für ihre Mitglieder geöffnet. Am Sonnabend ist der
Besuch vorzüglich stark. Zunächst tritt man in das Garderobezimmer, wo eifrige
Diener sogleich nach Mantel, Hut und Stock, vorzüglich nach dem Stocke greifen
und einem im Nothfalle erklären, daß ein strenges Gesetz, hier den Stock zurück-


Uebel nicht zu verhindern sein. Aber wie wäre das möglich? Der Pole in seiner
Zurückgezogenheit weist den Juden von sich ab, der Russe sucht ihn darin zu über¬
bieten. Der Jude soll der rechtlose Diener, ein Wesen sein, welches man benutzt,
um sich gnädig und als Herr zu zeigen. Allein der Jude fühlt sich zu eiuer etwas
besseren Rolle berechtigt. Seine Reichthümer und die Zahl, in welcher er sich am
Orte befindet, sagen ihm, daß er nicht gerade unter den Schuhsohlen irgend Je¬
mandes zu liegen und kriechen brauche. Es drängt ihn, sich mit senkrechter Stirn
neben Jemandem zu stellen. Aber neben wen? weder hier noch dort ist der An¬
schluß möglich. Auch der Deutsche hat seiue feste Stellung verloren und sucht
einen Anhaltepunkt. Zweifelnd steht er zwischen dem Polen und Russen. Das
sittliche Gefühl zieht ihn an diesen, dem er als den Ureinwohner und Eigenthümer
des Landes in dem Herzen das Recht, den Stamm der Gesellschaft zu bilden, zu¬
erkennt. Allein der Pole, im Jammer um seinen Verlust, hat eine Stellung ein¬
genommen, die jedes gesellschaftliche Ansinnen zurückweist. So bleibt ihm nnr
der Anschluß an den Russen. Gleich diesem weist er den Juden von sich ab, als
der Russe, um vor diesem seine Würde nicht zu schmälern. Ans solche Weise ist
der Jude so isolirt als der Pole, nur mit dem Unterschiede, daß er sich nicht
seines freien Willens rühmen kann wie Jener. Die Gesellschaft bilden in War¬
schau zum Theil aber nur noch die Fremdlinge, die Deutschen und Russen, und
zwar in einer Weise, wie sie eben aus der Unnalmlichkcit der Stellungen hervor¬
gehen kann.

> Lange Zeit nach der Revolution fanden in Warschau gar keine geselligen Zu¬
sammenkünfte statt. Unter dem Schwunge der politischen Knute, stand alles ver¬
dutzt, ängstlich, nicht wissend wie viel es wagen dürfe. Die Polen wußte» natür¬
lich am raschesten woran sie waren. Die Deutschen kamen um spätesten zum Be¬
griff, nämlich erst, nachdem die Russen ihnen manchen Beweis der Zuneigung und
des Vertrauens gegeben hatten. Obschon diese Beweise stets etwas stolzer Art
waren, genehmigte sie der zähe Deutsche doch gern und ließ sich durch sie Lust
und Muth machen, etwas für sein gesellschaftliches Bedürfniß zu wagen. So ent¬
standen die beiden Ressourcen, welche gegenwärtig bestehen.

Die „kleine" enthält mehre Hundert, die „große" oder „kaufmännische" über
tausend Mitglieder. Sie sind die beiden einzigen Gesellschaftszirkel und die bei¬
den einzigen Beweise von Drang zur Geselligkeit in dieser Stadt. Ju ihnen
selbst läßt sich das beste Studium des Warschauer Gesellschaftszustaudes machen.
Ich war in beiden Ressourcen mehr als einmal. Die kleine, im Hotel de Drahte,
ist wöchentlich mehre Male für ihre Mitglieder geöffnet. Am Sonnabend ist der
Besuch vorzüglich stark. Zunächst tritt man in das Garderobezimmer, wo eifrige
Diener sogleich nach Mantel, Hut und Stock, vorzüglich nach dem Stocke greifen
und einem im Nothfalle erklären, daß ein strenges Gesetz, hier den Stock zurück-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/484>, abgerufen am 05.02.2025.