Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mus gegen Hamlet gelernt haben, wissen wir freilich nicht recht, was wir mit
dieser närrischen Exposition machen sollen. Aber Gewinns versteht doch sonst Spaß.
Wenn er seiner Literaturgeschichte das Motto aus Percy vorsetzte, trotz aller Ach¬
tung, die er vor dem Geist der Poesie empfinden mochte, so hätte er auch deu
Humor haben sollen, Voltaire's Erstaunen über eine ihm absolut fremde Weltan¬
schauung in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen. Unter Hunderten, die heut
zu Tage Hamlet im Theater bewundern, und sich über den bunten Wechsel der
Abenteuer amüsiren, ist vielleicht kaum einer, der, wenn man ihn fragt, was
er eigentlich gesehn hat, etwas anderes erzählen wird. Wir freilich wissen aus
dem Wilhelm Meister, daß Hamlet eine Kritik ist gegen den Ueberfluß an Geist,
verbunden mit Mangel an Willenskraft; und wer sich gar zu Börne aufgeschwun¬
gen hat, wird in ihm das abschreckende Bild eines ebenso feigen als gewissenlosen,
verdorbenen Genies wiedererkennen. Daß Shakespeare alles Einzelne mit Reflexion
zusammengesetzt habe, ergibt sich schon aus einer Vergleichung mit der Quelle,
die er zu Grunde legte. In diesem Sinn wird es Gervinus freilich gelingen,
seinem Versprechen gemäß aus Hamlet in allen Punkten ein dramatisches Mei¬
sterwerk zu construiren -- er versichert es beiläufig zu meiner Verwunderung auch
vou Cymbeline. Aber abgesehn davon, daß sich von vielen einzelnen Scenen bei
allem guten Willen denn doch wohl nichj wird nachweisen lassen, inwiefern sie zur
Entwicklung der Handlung oder des Charakters nothwendig sind, bleiben immer
Noch zwei Fragen zu beantworten. Einmal, ob die sittliche Idee, die Moral, die
man durch Studium als den innern Zusammenhang eines Kunstwerks herausfindet,
die eigentliche Seele der dramatische" Action ersetzen kann. Ferner, ob der Dich¬
ter seinen Gegenstand so von sich selber fern hält, daß ein kritischer Gedanke die¬
ser Art, der doch eine entschiedene Mißbilligung involvirt, in der That bei seiner
Schöpfung die Hauptsache sein solle. Denn die Räthsel, die Hamlet sich selber stellt,
sie breiten sich so nebelhaft und schauerlich über Alles was geschieht, daß wir leicht in
seine eigne Lage gerathen. Nichts ist gut oder böse, erst unsere Gedanken machen es
dazu. Das Leben wie sein Gesetz -- der höchste Verstand kommt darüber nicht besser
ins Reine, als die Tölpel, die in dem Grabe mit den Schädeln spielen. Der
Schauder, der uns über all' diesen Dingen befällt, bezieht sich nicht auf die Ver¬
brechen, die wir vor uns sehn, nicht ans die Geistcrcrschcinnngen, von denen wir
w der That nicht wisse", ob sie wirklich sind oder nur in der kranken Einbildung
^ eben so wenig wie Hamlet es weiß; nicht auf deu Wahnsinn des Prinzen oder
Ophelia's, sondern auf den Wahnsinn, in dem wir die ganze Welt erblicken.
Wie die Seele ihren Verstand, so hat sie ihren Geist, ihren Gott verloren, und
vergeblich sieht sich der Mensch nach ihm um in der Welt des absoluten Scheins,
^iür 18 foul !M<1 l'mil is l'int', dieser Hexensprnch ist das Motto dieses wunder¬
baren Schauspiels.

Wir von der Hegel'schen Schule, wir haben es leicht, uns über die Pro-


Mus gegen Hamlet gelernt haben, wissen wir freilich nicht recht, was wir mit
dieser närrischen Exposition machen sollen. Aber Gewinns versteht doch sonst Spaß.
Wenn er seiner Literaturgeschichte das Motto aus Percy vorsetzte, trotz aller Ach¬
tung, die er vor dem Geist der Poesie empfinden mochte, so hätte er auch deu
Humor haben sollen, Voltaire's Erstaunen über eine ihm absolut fremde Weltan¬
schauung in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen. Unter Hunderten, die heut
zu Tage Hamlet im Theater bewundern, und sich über den bunten Wechsel der
Abenteuer amüsiren, ist vielleicht kaum einer, der, wenn man ihn fragt, was
er eigentlich gesehn hat, etwas anderes erzählen wird. Wir freilich wissen aus
dem Wilhelm Meister, daß Hamlet eine Kritik ist gegen den Ueberfluß an Geist,
verbunden mit Mangel an Willenskraft; und wer sich gar zu Börne aufgeschwun¬
gen hat, wird in ihm das abschreckende Bild eines ebenso feigen als gewissenlosen,
verdorbenen Genies wiedererkennen. Daß Shakespeare alles Einzelne mit Reflexion
zusammengesetzt habe, ergibt sich schon aus einer Vergleichung mit der Quelle,
die er zu Grunde legte. In diesem Sinn wird es Gervinus freilich gelingen,
seinem Versprechen gemäß aus Hamlet in allen Punkten ein dramatisches Mei¬
sterwerk zu construiren — er versichert es beiläufig zu meiner Verwunderung auch
vou Cymbeline. Aber abgesehn davon, daß sich von vielen einzelnen Scenen bei
allem guten Willen denn doch wohl nichj wird nachweisen lassen, inwiefern sie zur
Entwicklung der Handlung oder des Charakters nothwendig sind, bleiben immer
Noch zwei Fragen zu beantworten. Einmal, ob die sittliche Idee, die Moral, die
man durch Studium als den innern Zusammenhang eines Kunstwerks herausfindet,
die eigentliche Seele der dramatische» Action ersetzen kann. Ferner, ob der Dich¬
ter seinen Gegenstand so von sich selber fern hält, daß ein kritischer Gedanke die¬
ser Art, der doch eine entschiedene Mißbilligung involvirt, in der That bei seiner
Schöpfung die Hauptsache sein solle. Denn die Räthsel, die Hamlet sich selber stellt,
sie breiten sich so nebelhaft und schauerlich über Alles was geschieht, daß wir leicht in
seine eigne Lage gerathen. Nichts ist gut oder böse, erst unsere Gedanken machen es
dazu. Das Leben wie sein Gesetz — der höchste Verstand kommt darüber nicht besser
ins Reine, als die Tölpel, die in dem Grabe mit den Schädeln spielen. Der
Schauder, der uns über all' diesen Dingen befällt, bezieht sich nicht auf die Ver¬
brechen, die wir vor uns sehn, nicht ans die Geistcrcrschcinnngen, von denen wir
w der That nicht wisse», ob sie wirklich sind oder nur in der kranken Einbildung
^ eben so wenig wie Hamlet es weiß; nicht auf deu Wahnsinn des Prinzen oder
Ophelia's, sondern auf den Wahnsinn, in dem wir die ganze Welt erblicken.
Wie die Seele ihren Verstand, so hat sie ihren Geist, ihren Gott verloren, und
vergeblich sieht sich der Mensch nach ihm um in der Welt des absoluten Scheins,
^iür 18 foul !M<1 l'mil is l'int', dieser Hexensprnch ist das Motto dieses wunder¬
baren Schauspiels.

Wir von der Hegel'schen Schule, wir haben es leicht, uns über die Pro-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279287"/>
            <p xml:id="ID_850" prev="#ID_849"> Mus gegen Hamlet gelernt haben, wissen wir freilich nicht recht, was wir mit<lb/>
dieser närrischen Exposition machen sollen. Aber Gewinns versteht doch sonst Spaß.<lb/>
Wenn er seiner Literaturgeschichte das Motto aus Percy vorsetzte, trotz aller Ach¬<lb/>
tung, die er vor dem Geist der Poesie empfinden mochte, so hätte er auch deu<lb/>
Humor haben sollen, Voltaire's Erstaunen über eine ihm absolut fremde Weltan¬<lb/>
schauung in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen. Unter Hunderten, die heut<lb/>
zu Tage Hamlet im Theater bewundern, und sich über den bunten Wechsel der<lb/>
Abenteuer amüsiren, ist vielleicht kaum einer, der, wenn man ihn fragt, was<lb/>
er eigentlich gesehn hat, etwas anderes erzählen wird. Wir freilich wissen aus<lb/>
dem Wilhelm Meister, daß Hamlet eine Kritik ist gegen den Ueberfluß an Geist,<lb/>
verbunden mit Mangel an Willenskraft; und wer sich gar zu Börne aufgeschwun¬<lb/>
gen hat, wird in ihm das abschreckende Bild eines ebenso feigen als gewissenlosen,<lb/>
verdorbenen Genies wiedererkennen. Daß Shakespeare alles Einzelne mit Reflexion<lb/>
zusammengesetzt habe, ergibt sich schon aus einer Vergleichung mit der Quelle,<lb/>
die er zu Grunde legte. In diesem Sinn wird es Gervinus freilich gelingen,<lb/>
seinem Versprechen gemäß aus Hamlet in allen Punkten ein dramatisches Mei¬<lb/>
sterwerk zu construiren &#x2014; er versichert es beiläufig zu meiner Verwunderung auch<lb/>
vou Cymbeline. Aber abgesehn davon, daß sich von vielen einzelnen Scenen bei<lb/>
allem guten Willen denn doch wohl nichj wird nachweisen lassen, inwiefern sie zur<lb/>
Entwicklung der Handlung oder des Charakters nothwendig sind, bleiben immer<lb/>
Noch zwei Fragen zu beantworten. Einmal, ob die sittliche Idee, die Moral, die<lb/>
man durch Studium als den innern Zusammenhang eines Kunstwerks herausfindet,<lb/>
die eigentliche Seele der dramatische» Action ersetzen kann. Ferner, ob der Dich¬<lb/>
ter seinen Gegenstand so von sich selber fern hält, daß ein kritischer Gedanke die¬<lb/>
ser Art, der doch eine entschiedene Mißbilligung involvirt, in der That bei seiner<lb/>
Schöpfung die Hauptsache sein solle. Denn die Räthsel, die Hamlet sich selber stellt,<lb/>
sie breiten sich so nebelhaft und schauerlich über Alles was geschieht, daß wir leicht in<lb/>
seine eigne Lage gerathen. Nichts ist gut oder böse, erst unsere Gedanken machen es<lb/>
dazu. Das Leben wie sein Gesetz &#x2014; der höchste Verstand kommt darüber nicht besser<lb/>
ins Reine, als die Tölpel, die in dem Grabe mit den Schädeln spielen. Der<lb/>
Schauder, der uns über all' diesen Dingen befällt, bezieht sich nicht auf die Ver¬<lb/>
brechen, die wir vor uns sehn, nicht ans die Geistcrcrschcinnngen, von denen wir<lb/>
w der That nicht wisse», ob sie wirklich sind oder nur in der kranken Einbildung<lb/>
^ eben so wenig wie Hamlet es weiß; nicht auf deu Wahnsinn des Prinzen oder<lb/>
Ophelia's, sondern auf den Wahnsinn, in dem wir die ganze Welt erblicken.<lb/>
Wie die Seele ihren Verstand, so hat sie ihren Geist, ihren Gott verloren, und<lb/>
vergeblich sieht sich der Mensch nach ihm um in der Welt des absoluten Scheins,<lb/>
^iür 18 foul !M&lt;1 l'mil is l'int', dieser Hexensprnch ist das Motto dieses wunder¬<lb/>
baren Schauspiels.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_851" next="#ID_852"> Wir von der Hegel'schen Schule, wir haben es leicht, uns über die Pro-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] Mus gegen Hamlet gelernt haben, wissen wir freilich nicht recht, was wir mit dieser närrischen Exposition machen sollen. Aber Gewinns versteht doch sonst Spaß. Wenn er seiner Literaturgeschichte das Motto aus Percy vorsetzte, trotz aller Ach¬ tung, die er vor dem Geist der Poesie empfinden mochte, so hätte er auch deu Humor haben sollen, Voltaire's Erstaunen über eine ihm absolut fremde Weltan¬ schauung in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen. Unter Hunderten, die heut zu Tage Hamlet im Theater bewundern, und sich über den bunten Wechsel der Abenteuer amüsiren, ist vielleicht kaum einer, der, wenn man ihn fragt, was er eigentlich gesehn hat, etwas anderes erzählen wird. Wir freilich wissen aus dem Wilhelm Meister, daß Hamlet eine Kritik ist gegen den Ueberfluß an Geist, verbunden mit Mangel an Willenskraft; und wer sich gar zu Börne aufgeschwun¬ gen hat, wird in ihm das abschreckende Bild eines ebenso feigen als gewissenlosen, verdorbenen Genies wiedererkennen. Daß Shakespeare alles Einzelne mit Reflexion zusammengesetzt habe, ergibt sich schon aus einer Vergleichung mit der Quelle, die er zu Grunde legte. In diesem Sinn wird es Gervinus freilich gelingen, seinem Versprechen gemäß aus Hamlet in allen Punkten ein dramatisches Mei¬ sterwerk zu construiren — er versichert es beiläufig zu meiner Verwunderung auch vou Cymbeline. Aber abgesehn davon, daß sich von vielen einzelnen Scenen bei allem guten Willen denn doch wohl nichj wird nachweisen lassen, inwiefern sie zur Entwicklung der Handlung oder des Charakters nothwendig sind, bleiben immer Noch zwei Fragen zu beantworten. Einmal, ob die sittliche Idee, die Moral, die man durch Studium als den innern Zusammenhang eines Kunstwerks herausfindet, die eigentliche Seele der dramatische» Action ersetzen kann. Ferner, ob der Dich¬ ter seinen Gegenstand so von sich selber fern hält, daß ein kritischer Gedanke die¬ ser Art, der doch eine entschiedene Mißbilligung involvirt, in der That bei seiner Schöpfung die Hauptsache sein solle. Denn die Räthsel, die Hamlet sich selber stellt, sie breiten sich so nebelhaft und schauerlich über Alles was geschieht, daß wir leicht in seine eigne Lage gerathen. Nichts ist gut oder böse, erst unsere Gedanken machen es dazu. Das Leben wie sein Gesetz — der höchste Verstand kommt darüber nicht besser ins Reine, als die Tölpel, die in dem Grabe mit den Schädeln spielen. Der Schauder, der uns über all' diesen Dingen befällt, bezieht sich nicht auf die Ver¬ brechen, die wir vor uns sehn, nicht ans die Geistcrcrschcinnngen, von denen wir w der That nicht wisse», ob sie wirklich sind oder nur in der kranken Einbildung ^ eben so wenig wie Hamlet es weiß; nicht auf deu Wahnsinn des Prinzen oder Ophelia's, sondern auf den Wahnsinn, in dem wir die ganze Welt erblicken. Wie die Seele ihren Verstand, so hat sie ihren Geist, ihren Gott verloren, und vergeblich sieht sich der Mensch nach ihm um in der Welt des absoluten Scheins, ^iür 18 foul !M<1 l'mil is l'int', dieser Hexensprnch ist das Motto dieses wunder¬ baren Schauspiels. Wir von der Hegel'schen Schule, wir haben es leicht, uns über die Pro-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/261>, abgerufen am 05.02.2025.