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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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bleue des Dichters zu erheben. Wir wissen, daß die Frage des Prinzen nach
"Sein" oder "Nichtsein" eine Schülerfrage war, denn wir sind über die Identität
beider Begriffe aufgeklärt. Aber es wäre eine fade suffisance, wenn wir kein
Gefühl mehr hätten für den erschütternden Ernst dieser Frage, welche die Seele
des großen Wittenberger Reformators und seines dänischen Schülers bewegte.
Man vergleiche folgende Stelle aus Luther. "Wenn wir von dem Bilde Gottes
reden, so reden wir vou einem unbekannten Dinge, welches wir nicht allein nie
versuchet noch erfahren haben, sondern wir erfahren auch ohne Unterlaß das Wi-
derspiel. Das Bild selbst ist durch die Sünde dermaßen gedunkelt, daß wir es
anch mit Gedanken nicht fassen können. Denn die bloßen Worte mögen wir wohl
haben, aber wer ist, der da verstehen könnte, was das sei, fromm und frei von
allem Elend! -- Die Vernunft ist wider Gott und Gott am feindesten, der Wille,
da er am ehrlichsten sein will, Gottes Willen zum höchste" entgegen. Die Ver¬
nunft spricht: sollte Gott die Sünde verdammen wollen, so würde er den Unge¬
rechten nicht geschaffen haben. Dem Menschen ist ein Maaß gesetzt, er soll so
und so thun, sein Leben ist endlich, es kann gesaßt werden und hat eine Regel,
Maaß, Weise und Gesetz: so macht es die Vernunft auch mit Gott, sie meinet,
Gott sei wie ein Mensch und will ihn richten. Sollte ich hier meinen Gott mes¬
sen und urtheilen nach meiner Vernunft, so ist er ungerecht und hat viel mehr
Sünde denn der Teufel, ja er ist noch schrecklicher und gräulicher denn der Teufel.
Hierüber möchte Einer thöricht werden, wenn er nicht seine Vernunft gefangen
nimmt und aus dem Kopf ihm treiben läßt alle solche Gedanken."

Die mittelalterliche Kirche warf ganz dieselben Fragen ans, aber sie hatte
sogleich eine Antwort bereit. Entweder gab sie das Haupt der Kirche, oder ein
Concil entschied mit einfacher Majorität, wie es mit dem Wesen Gottes in dieser
oder jener Richtung beschaffen sei, oder die Schriftgelehrten berechneten es durch
scholastische Deductionen, oder irgend ein Wunder, eine Vision kam der Phantasie
zu Hilfe und brachte die Welt in Ordnung. Das Eigenthümliche des Protestan¬
tismus ist dieses, daß er jene Probleme nicht blos im Verstand, sondern im tief¬
sten Herzen trägt, daß er sie flieht, vor ihnen zittert, und doch seiner innern
Natur nach immer wieder darauf zurückkommen muß.

Es kann mir hier natürlich nnr darauf ankommen, ans die innere Verwand¬
schaft hinzudeuten, den diese im Wesen des Protestantismus, welcher die äußere
Vermittelung verschmähend, im Abgrund der Seele nachgrade, liegende Skepsis
mit der eigenthümlichen Richtung unseres Dichters verräth. Er wird darum nicht
kleiner, wenn man ihn als Träger eines Princips begreift, das noch über ihn
hinausreichte.

In der mittelalterlichen Weltanschauung lag der Geist der Natur fern. Die
Religion wie die Dichtung der neuen Zeit suchte ihn in ihr wieder zu finden, sie
suchte den Gott im Reich der Wirklichkeit, und gerade darum mußten sie die


bleue des Dichters zu erheben. Wir wissen, daß die Frage des Prinzen nach
„Sein" oder „Nichtsein" eine Schülerfrage war, denn wir sind über die Identität
beider Begriffe aufgeklärt. Aber es wäre eine fade suffisance, wenn wir kein
Gefühl mehr hätten für den erschütternden Ernst dieser Frage, welche die Seele
des großen Wittenberger Reformators und seines dänischen Schülers bewegte.
Man vergleiche folgende Stelle aus Luther. „Wenn wir von dem Bilde Gottes
reden, so reden wir vou einem unbekannten Dinge, welches wir nicht allein nie
versuchet noch erfahren haben, sondern wir erfahren auch ohne Unterlaß das Wi-
derspiel. Das Bild selbst ist durch die Sünde dermaßen gedunkelt, daß wir es
anch mit Gedanken nicht fassen können. Denn die bloßen Worte mögen wir wohl
haben, aber wer ist, der da verstehen könnte, was das sei, fromm und frei von
allem Elend! — Die Vernunft ist wider Gott und Gott am feindesten, der Wille,
da er am ehrlichsten sein will, Gottes Willen zum höchste» entgegen. Die Ver¬
nunft spricht: sollte Gott die Sünde verdammen wollen, so würde er den Unge¬
rechten nicht geschaffen haben. Dem Menschen ist ein Maaß gesetzt, er soll so
und so thun, sein Leben ist endlich, es kann gesaßt werden und hat eine Regel,
Maaß, Weise und Gesetz: so macht es die Vernunft auch mit Gott, sie meinet,
Gott sei wie ein Mensch und will ihn richten. Sollte ich hier meinen Gott mes¬
sen und urtheilen nach meiner Vernunft, so ist er ungerecht und hat viel mehr
Sünde denn der Teufel, ja er ist noch schrecklicher und gräulicher denn der Teufel.
Hierüber möchte Einer thöricht werden, wenn er nicht seine Vernunft gefangen
nimmt und aus dem Kopf ihm treiben läßt alle solche Gedanken."

Die mittelalterliche Kirche warf ganz dieselben Fragen ans, aber sie hatte
sogleich eine Antwort bereit. Entweder gab sie das Haupt der Kirche, oder ein
Concil entschied mit einfacher Majorität, wie es mit dem Wesen Gottes in dieser
oder jener Richtung beschaffen sei, oder die Schriftgelehrten berechneten es durch
scholastische Deductionen, oder irgend ein Wunder, eine Vision kam der Phantasie
zu Hilfe und brachte die Welt in Ordnung. Das Eigenthümliche des Protestan¬
tismus ist dieses, daß er jene Probleme nicht blos im Verstand, sondern im tief¬
sten Herzen trägt, daß er sie flieht, vor ihnen zittert, und doch seiner innern
Natur nach immer wieder darauf zurückkommen muß.

Es kann mir hier natürlich nnr darauf ankommen, ans die innere Verwand¬
schaft hinzudeuten, den diese im Wesen des Protestantismus, welcher die äußere
Vermittelung verschmähend, im Abgrund der Seele nachgrade, liegende Skepsis
mit der eigenthümlichen Richtung unseres Dichters verräth. Er wird darum nicht
kleiner, wenn man ihn als Träger eines Princips begreift, das noch über ihn
hinausreichte.

In der mittelalterlichen Weltanschauung lag der Geist der Natur fern. Die
Religion wie die Dichtung der neuen Zeit suchte ihn in ihr wieder zu finden, sie
suchte den Gott im Reich der Wirklichkeit, und gerade darum mußten sie die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/262>, abgerufen am 10.02.2025.