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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Gemüthlichkeit des Kaminfeuers hat nur dann den rechten Werth, wenn es kräf¬
tige Gestalten sind, die einmal mit sich selber spielen.

Von allen vortrefflichen Eigenschaften Shakespeares tritt uns diese am ersten
entgegen, weil wir an einen freien, gesunden Realismus so wenig gewöhnt sind.
Und doch ist sie es nicht gerade, was ihn am meisten vor seinen Landsleuten aus¬
zeichnet. Diese derbe Natur finden wir selbst in den puritanischen Zeiten, selbst
in der sogenannten classischen Geschmacksverbildung in der populären englischen
Literatur überall wieder. Selbst Milton geht in seinem gesunden Realismus so
weit, daß er die Erzengel sich durch derben Appetit, wie durch andere Tugenden,
von den schwächeren Sterblichen unterscheiden läßt, ähnlich den olympischen Göt¬
tern bei Homer: man möge diesen Zug in einem so spiritualistischen Gedicht nicht
genug schätzen. Klopstocks verschwommene, blasse Engelsgestalten sind darum leb¬
los, weil sie diese Grundlage alles Lebens entbehren. Realismus ist in Ben
Johnson, Smollet, Fielding u. s. w. bis zu Marryat und DickeizS herunter
soviel als in Shakespeare, der Unterschied ist nur, daß es hier beim Drolligen,
beim Origineller bleibt, und daß die höhere Vergeistung fehlt.

Ich eile zum dritten Punkt. In Shakespeare's spätern Werken finden wir --
ich erinnere nur an Hamlet, Timon und Lear -- vorherrschend eine finstere, tiefsinnige
Stimmung, die gegen den heitern Ton seiner frühern Schauspiele zu auffallend absticht,
als daß man sie nicht mit einer innern Umwandlung in dem Geist des Dichters
in Zusammenhang setzen sollte. Möglich, daß die Veränderung der äußern Ver¬
hältnisse seit dem Tode Elisabeths, das Anwachsen der specifisch religiösen Interessen
der Kunst gegenüber ihn verstimmt hat. Aber das ist nicht die Hauptsache. Wir
haben zu deutliche Symptome, daß der düstre Schatten, der sich in dem purita¬
nische" Wesen über England ausbreitete, anch an des Dichters Seele nicht vor¬
übergegangen sei.

Der Deutlichkeit wegen nehme ich gleich ein bestimmtes Beispiel. Mit einer
gewissen sittlichen Entrüstung theilt Gervinus Voltaire's Kritik über Hamlet mit,
der zu dem Endresultat kam, es sehe ans wie das Werk eines betrunkenen Wil¬
den von großen Anlagen. "Hamlet, so charakterisirt er das Drama, wird im
zweiten Act ein Narr, und seine Geliebte im dritten eine Närrin, der Prinz tödtet
den Vater seiner Geliebten, indem er sich stellt, als tödte er eine Ratte, und
die Heldin stürzt sich ins Wasser. Man macht ihr Grab auf dem Theater; die
Todtengräber sprechen Quodlibets, die ihrer würdig sind, indem sie Todtenköpfe
in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre widerwärtigen Thorheiten mit
Rohheiten, die nicht weniger widerlich sind. Während dem macht einer der Schau¬
spieler die Eroberung von Polen. Hamlet, seine Mutter, sein Stiefvater trinken
zusammen auf dem Theater, man singt bei Tisch, man zankt sich, man schlägt sich
und ermordet sich."

Bei der Verehrung, die wir schon von Jugend auf wie aus dem Katechis-


Gemüthlichkeit des Kaminfeuers hat nur dann den rechten Werth, wenn es kräf¬
tige Gestalten sind, die einmal mit sich selber spielen.

Von allen vortrefflichen Eigenschaften Shakespeares tritt uns diese am ersten
entgegen, weil wir an einen freien, gesunden Realismus so wenig gewöhnt sind.
Und doch ist sie es nicht gerade, was ihn am meisten vor seinen Landsleuten aus¬
zeichnet. Diese derbe Natur finden wir selbst in den puritanischen Zeiten, selbst
in der sogenannten classischen Geschmacksverbildung in der populären englischen
Literatur überall wieder. Selbst Milton geht in seinem gesunden Realismus so
weit, daß er die Erzengel sich durch derben Appetit, wie durch andere Tugenden,
von den schwächeren Sterblichen unterscheiden läßt, ähnlich den olympischen Göt¬
tern bei Homer: man möge diesen Zug in einem so spiritualistischen Gedicht nicht
genug schätzen. Klopstocks verschwommene, blasse Engelsgestalten sind darum leb¬
los, weil sie diese Grundlage alles Lebens entbehren. Realismus ist in Ben
Johnson, Smollet, Fielding u. s. w. bis zu Marryat und DickeizS herunter
soviel als in Shakespeare, der Unterschied ist nur, daß es hier beim Drolligen,
beim Origineller bleibt, und daß die höhere Vergeistung fehlt.

Ich eile zum dritten Punkt. In Shakespeare's spätern Werken finden wir —
ich erinnere nur an Hamlet, Timon und Lear — vorherrschend eine finstere, tiefsinnige
Stimmung, die gegen den heitern Ton seiner frühern Schauspiele zu auffallend absticht,
als daß man sie nicht mit einer innern Umwandlung in dem Geist des Dichters
in Zusammenhang setzen sollte. Möglich, daß die Veränderung der äußern Ver¬
hältnisse seit dem Tode Elisabeths, das Anwachsen der specifisch religiösen Interessen
der Kunst gegenüber ihn verstimmt hat. Aber das ist nicht die Hauptsache. Wir
haben zu deutliche Symptome, daß der düstre Schatten, der sich in dem purita¬
nische» Wesen über England ausbreitete, anch an des Dichters Seele nicht vor¬
übergegangen sei.

Der Deutlichkeit wegen nehme ich gleich ein bestimmtes Beispiel. Mit einer
gewissen sittlichen Entrüstung theilt Gervinus Voltaire's Kritik über Hamlet mit,
der zu dem Endresultat kam, es sehe ans wie das Werk eines betrunkenen Wil¬
den von großen Anlagen. „Hamlet, so charakterisirt er das Drama, wird im
zweiten Act ein Narr, und seine Geliebte im dritten eine Närrin, der Prinz tödtet
den Vater seiner Geliebten, indem er sich stellt, als tödte er eine Ratte, und
die Heldin stürzt sich ins Wasser. Man macht ihr Grab auf dem Theater; die
Todtengräber sprechen Quodlibets, die ihrer würdig sind, indem sie Todtenköpfe
in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre widerwärtigen Thorheiten mit
Rohheiten, die nicht weniger widerlich sind. Während dem macht einer der Schau¬
spieler die Eroberung von Polen. Hamlet, seine Mutter, sein Stiefvater trinken
zusammen auf dem Theater, man singt bei Tisch, man zankt sich, man schlägt sich
und ermordet sich."

Bei der Verehrung, die wir schon von Jugend auf wie aus dem Katechis-


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[0260] Gemüthlichkeit des Kaminfeuers hat nur dann den rechten Werth, wenn es kräf¬ tige Gestalten sind, die einmal mit sich selber spielen. Von allen vortrefflichen Eigenschaften Shakespeares tritt uns diese am ersten entgegen, weil wir an einen freien, gesunden Realismus so wenig gewöhnt sind. Und doch ist sie es nicht gerade, was ihn am meisten vor seinen Landsleuten aus¬ zeichnet. Diese derbe Natur finden wir selbst in den puritanischen Zeiten, selbst in der sogenannten classischen Geschmacksverbildung in der populären englischen Literatur überall wieder. Selbst Milton geht in seinem gesunden Realismus so weit, daß er die Erzengel sich durch derben Appetit, wie durch andere Tugenden, von den schwächeren Sterblichen unterscheiden läßt, ähnlich den olympischen Göt¬ tern bei Homer: man möge diesen Zug in einem so spiritualistischen Gedicht nicht genug schätzen. Klopstocks verschwommene, blasse Engelsgestalten sind darum leb¬ los, weil sie diese Grundlage alles Lebens entbehren. Realismus ist in Ben Johnson, Smollet, Fielding u. s. w. bis zu Marryat und DickeizS herunter soviel als in Shakespeare, der Unterschied ist nur, daß es hier beim Drolligen, beim Origineller bleibt, und daß die höhere Vergeistung fehlt. Ich eile zum dritten Punkt. In Shakespeare's spätern Werken finden wir — ich erinnere nur an Hamlet, Timon und Lear — vorherrschend eine finstere, tiefsinnige Stimmung, die gegen den heitern Ton seiner frühern Schauspiele zu auffallend absticht, als daß man sie nicht mit einer innern Umwandlung in dem Geist des Dichters in Zusammenhang setzen sollte. Möglich, daß die Veränderung der äußern Ver¬ hältnisse seit dem Tode Elisabeths, das Anwachsen der specifisch religiösen Interessen der Kunst gegenüber ihn verstimmt hat. Aber das ist nicht die Hauptsache. Wir haben zu deutliche Symptome, daß der düstre Schatten, der sich in dem purita¬ nische» Wesen über England ausbreitete, anch an des Dichters Seele nicht vor¬ übergegangen sei. Der Deutlichkeit wegen nehme ich gleich ein bestimmtes Beispiel. Mit einer gewissen sittlichen Entrüstung theilt Gervinus Voltaire's Kritik über Hamlet mit, der zu dem Endresultat kam, es sehe ans wie das Werk eines betrunkenen Wil¬ den von großen Anlagen. „Hamlet, so charakterisirt er das Drama, wird im zweiten Act ein Narr, und seine Geliebte im dritten eine Närrin, der Prinz tödtet den Vater seiner Geliebten, indem er sich stellt, als tödte er eine Ratte, und die Heldin stürzt sich ins Wasser. Man macht ihr Grab auf dem Theater; die Todtengräber sprechen Quodlibets, die ihrer würdig sind, indem sie Todtenköpfe in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre widerwärtigen Thorheiten mit Rohheiten, die nicht weniger widerlich sind. Während dem macht einer der Schau¬ spieler die Eroberung von Polen. Hamlet, seine Mutter, sein Stiefvater trinken zusammen auf dem Theater, man singt bei Tisch, man zankt sich, man schlägt sich und ermordet sich." Bei der Verehrung, die wir schon von Jugend auf wie aus dem Katechis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/260>, abgerufen am 05.02.2025.