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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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scheu Gestalten in ihre Schranken zurückweist. In den frühern Werken des Dichters
verehren sie die Kühnheit des genialen Herzens, die mit der Sitte spielt, wie mit
dem Recht, in den spätern die Unnahbarkeit der dichterischen Inspiration, welche den
Ungeweihtcn abstößt und ihn dennoch fesselt. In beiden Fällen heben sie das Irra¬
tionale hervor, die Willkür; für das Maaß dagegen, das bei aller Kühnheit
eine künstlerische Natur stets bewahrt, haben sie kein Verständniß. Sie empfinden
nur den freien Erguß der Seele über die künstlichen, gemachten Grenzen hinaus,
nicht die Selbstbegrenzung der schönen Natur. Und gerade das hebt Goethe über
seine Generation.

Es liegt nnn sehr nahe, im Unmuth über jene Verzerrungen dem Dichter
aufzubürden, was nur seine falschen Apostel trifft. In unserer Zeit tritt uns die
Willkür der Empfindung, die Sentimentalität in allen möglichen Formen, die
Caprice, die sich selber anbetet, von allen Seiten her so zudringlich entgegen, daß
man es der Poesie mit Recht zum Vorwurf macht, wenn sie an dieses unheilige
Treiben ihre Kränze verschwendet. Die Dichtung hat den Beruf, der Menschheit
eine höhere Stufe prophetisch vorzubilden, und sie zu ihr zu erheben; sie ist ver¬
werflich, wo sie wie ein Schlinggewächs sich um die zerfallenden Neste einer er-
storbenen Welt rankt, und ihr den bösen Schein des Lebens leiht. Aber diese
Trümmer waren in Goethe's Jugend die Bausteine einer neuen Zeit. Damals
haben die Poeten es dem Herzen, das zwischen dürren Verstandsabstractionen und
hohlen conventionellen Formen verkümmerte, wie eine neue Botschaft verkündet,
daß es das Recht habe, zu sein, und sich in seiner Freiheit, in seinem Gegensatz
zur Welt zu empfinden. Damals war es eine Kühnheit, Gestalten zu concipiren,
wie Faust, wie Werther, wie Tasso, wie Wilhelm Meister, denen die Alltäglich¬
keit des bürgerlichen Mechanismus eine Quaal war, wenn sie ihm vorläufig auch
nur ein dunkles Gefühl/ ein ganz unbestimmtes Ideal, eine innere Gährung ent¬
gegensetzen konnten, die sie trieb, sie wußte" selber uicht wohin. Diese Unbestimmt¬
heit des Gefühls, und das soll man nicht vergessen, mußte in ihrer künstlerischen
Darstellung ebenfalls zur Formlosigkeit, zur Willkür führen. Jene Periode war
nicht eine klassische; der Eine hat es dem Andern so oft vorgesagt, daß es zuletzt
zu einer Art Glaubensartikel geworden ist; sie war die nothwendige, aber krank¬
hafte Uebergangsphase zu einer neuen Bildungsform, und ihre Productionen sind
in diesem Sinn, und nur in diesem, vollkommen berechtigt. Heute dagegen, wo
in jedem Ladendiener, um von der studirenden Jugend ganz zu schweigen, ein
kleiner Werther, ein kleiner Faust, ein kleiner Wilhelm Meister steckt, heute ist
die Poesie, welche die Sehnsucht ins Blaue feiert, vom Uebel, und es ist nicht
zu umgehen, daß man sich über die Schwächlichkeit dieser Figuren ins Klare setzt.
Damals war es etwas Großes, zu lieben, zu empfinden, unzufrieden zu sein, ich
möchte aber wissen, wer sich heute mit allen diesen Beschäftigungen nicht bereits
so viel abgegeben hätte, daß es gar nicht mehr noth thut, sie ihm poetisch einzu-


scheu Gestalten in ihre Schranken zurückweist. In den frühern Werken des Dichters
verehren sie die Kühnheit des genialen Herzens, die mit der Sitte spielt, wie mit
dem Recht, in den spätern die Unnahbarkeit der dichterischen Inspiration, welche den
Ungeweihtcn abstößt und ihn dennoch fesselt. In beiden Fällen heben sie das Irra¬
tionale hervor, die Willkür; für das Maaß dagegen, das bei aller Kühnheit
eine künstlerische Natur stets bewahrt, haben sie kein Verständniß. Sie empfinden
nur den freien Erguß der Seele über die künstlichen, gemachten Grenzen hinaus,
nicht die Selbstbegrenzung der schönen Natur. Und gerade das hebt Goethe über
seine Generation.

Es liegt nnn sehr nahe, im Unmuth über jene Verzerrungen dem Dichter
aufzubürden, was nur seine falschen Apostel trifft. In unserer Zeit tritt uns die
Willkür der Empfindung, die Sentimentalität in allen möglichen Formen, die
Caprice, die sich selber anbetet, von allen Seiten her so zudringlich entgegen, daß
man es der Poesie mit Recht zum Vorwurf macht, wenn sie an dieses unheilige
Treiben ihre Kränze verschwendet. Die Dichtung hat den Beruf, der Menschheit
eine höhere Stufe prophetisch vorzubilden, und sie zu ihr zu erheben; sie ist ver¬
werflich, wo sie wie ein Schlinggewächs sich um die zerfallenden Neste einer er-
storbenen Welt rankt, und ihr den bösen Schein des Lebens leiht. Aber diese
Trümmer waren in Goethe's Jugend die Bausteine einer neuen Zeit. Damals
haben die Poeten es dem Herzen, das zwischen dürren Verstandsabstractionen und
hohlen conventionellen Formen verkümmerte, wie eine neue Botschaft verkündet,
daß es das Recht habe, zu sein, und sich in seiner Freiheit, in seinem Gegensatz
zur Welt zu empfinden. Damals war es eine Kühnheit, Gestalten zu concipiren,
wie Faust, wie Werther, wie Tasso, wie Wilhelm Meister, denen die Alltäglich¬
keit des bürgerlichen Mechanismus eine Quaal war, wenn sie ihm vorläufig auch
nur ein dunkles Gefühl/ ein ganz unbestimmtes Ideal, eine innere Gährung ent¬
gegensetzen konnten, die sie trieb, sie wußte« selber uicht wohin. Diese Unbestimmt¬
heit des Gefühls, und das soll man nicht vergessen, mußte in ihrer künstlerischen
Darstellung ebenfalls zur Formlosigkeit, zur Willkür führen. Jene Periode war
nicht eine klassische; der Eine hat es dem Andern so oft vorgesagt, daß es zuletzt
zu einer Art Glaubensartikel geworden ist; sie war die nothwendige, aber krank¬
hafte Uebergangsphase zu einer neuen Bildungsform, und ihre Productionen sind
in diesem Sinn, und nur in diesem, vollkommen berechtigt. Heute dagegen, wo
in jedem Ladendiener, um von der studirenden Jugend ganz zu schweigen, ein
kleiner Werther, ein kleiner Faust, ein kleiner Wilhelm Meister steckt, heute ist
die Poesie, welche die Sehnsucht ins Blaue feiert, vom Uebel, und es ist nicht
zu umgehen, daß man sich über die Schwächlichkeit dieser Figuren ins Klare setzt.
Damals war es etwas Großes, zu lieben, zu empfinden, unzufrieden zu sein, ich
möchte aber wissen, wer sich heute mit allen diesen Beschäftigungen nicht bereits
so viel abgegeben hätte, daß es gar nicht mehr noth thut, sie ihm poetisch einzu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/208>, abgerufen am 05.02.2025.