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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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brochcu wird, so werden wir es auch ganz in der Ordnung finden, wenn man
eine Verfassung gibt, und daun sie auf einmal wieder aufhebt, oder sie wenigstens
durch allerlei geniale Einfälle durchlöchert. Gerade weil bei Goethe die angeborne
Unart der deutschen Nation, die subjective Willkür, das charakterlose Verschwimmen
im Meere zufälliger Empfindung, das Auflehnen gegen Negel und Gesetz, ans die
Spitze getrieben ist (womit gar nicht im Widerspruch steht, daß der Dichter bei
seinem seinen Gefühl für alles Schöne unter andern Neigungen -- auch die für
Negel und Gesetz sehr lebhast hegte), gerade darum müssen wir ihn, unsern Lieb¬
ling, einer strengen Kritik unterwerfen, nicht seiner Läuterung wegen, sondern der
unsrigen. Wir müssen erst zu der Erkeimtniß kommen, daß der Faust von An¬
fang bis zu Ende ein schlechtes Stück ist, ehe wir berechtigt sind, an seinen wun¬
derbaren Schönheiten uns zu erfreuen. Noch steht der Genius, der in Goethe
seinen vollkommensten Ausdruck gefunden hat, unserm Leben in zu feindlicher Nähe,
als daß wir uns ihm unbefangen hingeben dürften; wir müssen ihn erst vollstän¬
dig überwunden haben, ehe wir ihn lieben dürfen.

Von diesem Standpunkt ans würde sich auch unser Urtheil über die unbe-
dingten Verehrer seiner Richtung bestimmen lassen. Es unterscheiden sich in den¬
selben drei Classen.

Die erste, zu der auch der Verfasser der uns vorliegenden Schrift gehört,
sind die naiven Verehrer des Dichters. Sie sehen es im vollen Ernst als eine
Verleumdung an, wenn man ihm irgend eine der Eigenschaften abspricht, die sie
für gut und werthvoll halten. Sie wollen nicht haben, daß man an seinem Chri-
stenthum, seiner Vaterlandsliebe, seinen sittlichen Gefühlen zweifelt, und es' ist
ihnen Ernst damit. Je unproduktiver in der Negel diese Naturen sind, um so
mehr ist ihnen die Hingebung an eine große Erscheinung Herzenssache. Es ist
charakteristisch, daß man sie in unsern Tagen mehr unter den bejahrten Leuten und in
den höhern Ständen antrifft. Im vorigen Jahrhundert war das anders. Es ist jetzt
nicht mehr die Liebe des unmittelbaren Entzückens, sondern der Pietät. Ich komme
darauf noch zurück, wenn ich an die nähere Besprechung der "Studien" gehe.

Die zweite ist der junge Nachwuchs der romantischen Schule, die seit Heinrich
Heine den moralischen Nigvristen mit eben so viel genialen Selbstgefühl entgegen¬
trat, als die jugendlichen Dichter der Sturm- und Drangperiode den damaligen
"Philistern", den Aufklärer". Für sie ist der Tadel, den eine strenge Aesthetik
gegen Goethe ausspricht, ein Lob. Es ist ihnen ganz recht, daß er das Fleisch
der heidnischen Sinnlichkeit gegen die spiritualistischen Anforderungen des Chri¬
stenthums gerettet, es ist ihnen aber ebenso recht, daß er dem gemeinen Menschen¬
verstand, der überall klar sehn will, mit souveräner Ironie die Räthsel eines ans
besonderer Begabung quellenden Spiritualismus gleichsam an den Kopf geworfen.
Sie theilen ihr Herz zwischen Philine und Mignon, und nehmen es sogar dem
Dichter übel, wenn er selber jene nur einer bedingten Anerkenn ung würdigen poeti-


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brochcu wird, so werden wir es auch ganz in der Ordnung finden, wenn man
eine Verfassung gibt, und daun sie auf einmal wieder aufhebt, oder sie wenigstens
durch allerlei geniale Einfälle durchlöchert. Gerade weil bei Goethe die angeborne
Unart der deutschen Nation, die subjective Willkür, das charakterlose Verschwimmen
im Meere zufälliger Empfindung, das Auflehnen gegen Negel und Gesetz, ans die
Spitze getrieben ist (womit gar nicht im Widerspruch steht, daß der Dichter bei
seinem seinen Gefühl für alles Schöne unter andern Neigungen — auch die für
Negel und Gesetz sehr lebhast hegte), gerade darum müssen wir ihn, unsern Lieb¬
ling, einer strengen Kritik unterwerfen, nicht seiner Läuterung wegen, sondern der
unsrigen. Wir müssen erst zu der Erkeimtniß kommen, daß der Faust von An¬
fang bis zu Ende ein schlechtes Stück ist, ehe wir berechtigt sind, an seinen wun¬
derbaren Schönheiten uns zu erfreuen. Noch steht der Genius, der in Goethe
seinen vollkommensten Ausdruck gefunden hat, unserm Leben in zu feindlicher Nähe,
als daß wir uns ihm unbefangen hingeben dürften; wir müssen ihn erst vollstän¬
dig überwunden haben, ehe wir ihn lieben dürfen.

Von diesem Standpunkt ans würde sich auch unser Urtheil über die unbe-
dingten Verehrer seiner Richtung bestimmen lassen. Es unterscheiden sich in den¬
selben drei Classen.

Die erste, zu der auch der Verfasser der uns vorliegenden Schrift gehört,
sind die naiven Verehrer des Dichters. Sie sehen es im vollen Ernst als eine
Verleumdung an, wenn man ihm irgend eine der Eigenschaften abspricht, die sie
für gut und werthvoll halten. Sie wollen nicht haben, daß man an seinem Chri-
stenthum, seiner Vaterlandsliebe, seinen sittlichen Gefühlen zweifelt, und es' ist
ihnen Ernst damit. Je unproduktiver in der Negel diese Naturen sind, um so
mehr ist ihnen die Hingebung an eine große Erscheinung Herzenssache. Es ist
charakteristisch, daß man sie in unsern Tagen mehr unter den bejahrten Leuten und in
den höhern Ständen antrifft. Im vorigen Jahrhundert war das anders. Es ist jetzt
nicht mehr die Liebe des unmittelbaren Entzückens, sondern der Pietät. Ich komme
darauf noch zurück, wenn ich an die nähere Besprechung der „Studien" gehe.

Die zweite ist der junge Nachwuchs der romantischen Schule, die seit Heinrich
Heine den moralischen Nigvristen mit eben so viel genialen Selbstgefühl entgegen¬
trat, als die jugendlichen Dichter der Sturm- und Drangperiode den damaligen
„Philistern", den Aufklärer». Für sie ist der Tadel, den eine strenge Aesthetik
gegen Goethe ausspricht, ein Lob. Es ist ihnen ganz recht, daß er das Fleisch
der heidnischen Sinnlichkeit gegen die spiritualistischen Anforderungen des Chri¬
stenthums gerettet, es ist ihnen aber ebenso recht, daß er dem gemeinen Menschen¬
verstand, der überall klar sehn will, mit souveräner Ironie die Räthsel eines ans
besonderer Begabung quellenden Spiritualismus gleichsam an den Kopf geworfen.
Sie theilen ihr Herz zwischen Philine und Mignon, und nehmen es sogar dem
Dichter übel, wenn er selber jene nur einer bedingten Anerkenn ung würdigen poeti-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/207>, abgerufen am 10.02.2025.