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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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scharf und genau zu bezeichnen. Aus dem bunten und grotesken Flitterstaat der
Schildereien von Lenau und Freiligrath ist bei ihm die deutsche Sprache heraus¬
getreten in die plastische Naktheit, wo kein falscher Putz Armuth und Un-
behüflichkcit verdecken könnte. Sollen wir ein neues Reich der poetischen Schön¬
heit schaffen, so kann uns nur eine gute künstlerisch durchgebildete Prosa dazu
helfen, wir müssen wahr werden, bevor wir schön sein können, zur Wahrheit aber
kommen wir nur durch die Prosa.

Es ist bekannt, wie groß der Succeß und die Wirkung war, welche Auer-
bachs Dorfgeschichten machten, sie regten jüngere Zeitgenossen zu ähnlichen Pro¬
duktionen an und stärkten ältere, welche von selbst in eine verwandte Richtung
gekommen waren.

Leopold Kompert gehört derselben Richtung an. Seine Geschichten "Aus
dem Ghetto" (1848) verdienen die Aufmerksamkeit der deutschen Leser nicht nur
wegen ihres Stoffes, sondern noch mehr deshalb, weil in ihnen sich eine wirklich
dichterische Art des Schaffens kund gibt, und weil der Dichter möglicher Weist
eine poetische Zukunft haben kann. Die Anzahl der Dichterkräfte, welchen mensch¬
liches Urtheil in der nächsten Zukunft Förderung unserer poetischen Literatur zu¬
trauen darf, ist bei uns sehr gering. Der größte Theil unserer bekaunten Poeten
scheint abgeblüht zu haben und so wenig dem Menschen erlaubt ist, über die See-
leneutwickluug und geistige Zukunft eines Lebenden in einem Dekret abzuurtheilen,
eben so sehr ist es Recht und Pflicht, mit prüfendem Auge in die Zukunft jedes
Talentes herein zu spähen und den Weg zu beurtheilen, ausweichen es vorwärtsgehe.
Wahrscheinlich hilft solche Betrachtung dem schaffenden selbst nichts, uns aber
fördert sie. Der Kreis der Stoffe, welche Komperr verarbeitet hat, ist das enge
Leben der böhmischen Judengemeinden, welche durch hölzerne Thore, beschränkende
Gesetze, Mißtrauen und Haß und wie alle die mittelalterlichen Schlagbäume heißen,
von ihren christlichen Nachbaren getrennt leben. Er ist selbst ein Kind des Ghet¬
to^ und wie bei Auerbach, sind es Eindrücke aus seiner Jugendzeit, welche sich
ihm poetisch verklärt haben. Auerbach aber war glücklicher. Der jüdische Knabe
schaute als schwäbischer Bauernbursch muthig und treuherzig von den Höhen des
Schwarzwaldes herunter in die deutschen Thäler, pfiff sein schwäbisches Liebet,
prügelte sich mit den andern Bauernknaben und bewunderte den Chorrock des Dorf-
Pfarrers eben so sehr, wie ein anderer seiner Spielkameraden. Der Sohn des
böhmischen Ghetto wuchs mit größeren innern Kämpfen und in größerer Abge¬
schlossenheit von der Welt aus der dumpfen Lust der engen Judenstadt heraus.
Die Anschauungen und Empfindungen seiner Kindheit waren einseitiger und der
Gegensatz, in welchem sich der gebildete Mann zu seiner Vergangenheit befand,
war größer. Ein märchenhafter Duft kam ihm über die Erinnerungen aus seiner
Jugend und überzog ihm die vielen eckigen und seltsamen Gestalten so weit, daß
er sie mit Liebe vor sein poetisches Auge ziehn konnte. Vielleicht haben die ein-


scharf und genau zu bezeichnen. Aus dem bunten und grotesken Flitterstaat der
Schildereien von Lenau und Freiligrath ist bei ihm die deutsche Sprache heraus¬
getreten in die plastische Naktheit, wo kein falscher Putz Armuth und Un-
behüflichkcit verdecken könnte. Sollen wir ein neues Reich der poetischen Schön¬
heit schaffen, so kann uns nur eine gute künstlerisch durchgebildete Prosa dazu
helfen, wir müssen wahr werden, bevor wir schön sein können, zur Wahrheit aber
kommen wir nur durch die Prosa.

Es ist bekannt, wie groß der Succeß und die Wirkung war, welche Auer-
bachs Dorfgeschichten machten, sie regten jüngere Zeitgenossen zu ähnlichen Pro¬
duktionen an und stärkten ältere, welche von selbst in eine verwandte Richtung
gekommen waren.

Leopold Kompert gehört derselben Richtung an. Seine Geschichten „Aus
dem Ghetto" (1848) verdienen die Aufmerksamkeit der deutschen Leser nicht nur
wegen ihres Stoffes, sondern noch mehr deshalb, weil in ihnen sich eine wirklich
dichterische Art des Schaffens kund gibt, und weil der Dichter möglicher Weist
eine poetische Zukunft haben kann. Die Anzahl der Dichterkräfte, welchen mensch¬
liches Urtheil in der nächsten Zukunft Förderung unserer poetischen Literatur zu¬
trauen darf, ist bei uns sehr gering. Der größte Theil unserer bekaunten Poeten
scheint abgeblüht zu haben und so wenig dem Menschen erlaubt ist, über die See-
leneutwickluug und geistige Zukunft eines Lebenden in einem Dekret abzuurtheilen,
eben so sehr ist es Recht und Pflicht, mit prüfendem Auge in die Zukunft jedes
Talentes herein zu spähen und den Weg zu beurtheilen, ausweichen es vorwärtsgehe.
Wahrscheinlich hilft solche Betrachtung dem schaffenden selbst nichts, uns aber
fördert sie. Der Kreis der Stoffe, welche Komperr verarbeitet hat, ist das enge
Leben der böhmischen Judengemeinden, welche durch hölzerne Thore, beschränkende
Gesetze, Mißtrauen und Haß und wie alle die mittelalterlichen Schlagbäume heißen,
von ihren christlichen Nachbaren getrennt leben. Er ist selbst ein Kind des Ghet¬
to^ und wie bei Auerbach, sind es Eindrücke aus seiner Jugendzeit, welche sich
ihm poetisch verklärt haben. Auerbach aber war glücklicher. Der jüdische Knabe
schaute als schwäbischer Bauernbursch muthig und treuherzig von den Höhen des
Schwarzwaldes herunter in die deutschen Thäler, pfiff sein schwäbisches Liebet,
prügelte sich mit den andern Bauernknaben und bewunderte den Chorrock des Dorf-
Pfarrers eben so sehr, wie ein anderer seiner Spielkameraden. Der Sohn des
böhmischen Ghetto wuchs mit größeren innern Kämpfen und in größerer Abge¬
schlossenheit von der Welt aus der dumpfen Lust der engen Judenstadt heraus.
Die Anschauungen und Empfindungen seiner Kindheit waren einseitiger und der
Gegensatz, in welchem sich der gebildete Mann zu seiner Vergangenheit befand,
war größer. Ein märchenhafter Duft kam ihm über die Erinnerungen aus seiner
Jugend und überzog ihm die vielen eckigen und seltsamen Gestalten so weit, daß
er sie mit Liebe vor sein poetisches Auge ziehn konnte. Vielleicht haben die ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/192>, abgerufen am 05.02.2025.