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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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tiges Volksleben, das junge Selbstgefühl einer starken Nation zur Unterlage haben
müssen, sie braucht Augen, welche scharf und sicher das CharakterDische in allen
Formen des Menschenlebens erkennen und einen Geist, welcher über der Verschie¬
denheit des Details das allgemein Menschliche freudig genießt. Die klare ob¬
jective Darstellung, die liebevolle Charakteristik des Individuellen mit freiem Hu¬
mor sind die Entwickelungsstufen, von welchen eine neue Phase unserer poetischen
Literatur beginnen mag. Zu dieser neuen Zeit führen einzelne Individualitäten
herüber, welche hier Dichter des Details heißen mögen, der Bekannteste unter
ihnen ist Berthold Auerbach.

Die Grenzboten haben seit vorigem Sommer oft Veranlassung gehabt, Auer-
bachs dichterische Thätigkeit zu kritisiren, sie haben es immer vermieden. Wenn
man Jemanden persönlich genau kennt, so hat man nicht in allen Fällen das Recht
über ihn zu schreiben. Nicht als ob die Freundschaft eine öffentliche Kritik nicht
überdauern könnte, sondern weil der kritisirende Freund nicht vermeiden kann seine
genaue Kenntniß von der Seele des Freundes, welche sich ihm vertrauensvoll
geöffnet hat, zu benutzen, um dem Publikum seine Ansichten über die Beschaffenheit
und Größe der befreundeten Dichterkraft zu begründen. Es ist immer etwas Ver¬
rätherei dabei, und deshalb möge der Leser auch hier kein specifizirtes Gutachten
über Vergangenheit und Zukunft eines lieben Mannes erwarten, nur einiges Be¬
kannte stelle ich kurz zusammen.

Die Fortbildung, welche die Poesie in unserer Uebergangsperiode durch Auer¬
bach und seine kleine Schule erfuhr, ist eine dreifache. Die Stoffe werden vater¬
ländische, die Darstellung des Details wird genauer und objectiver, die Sprache
wird charakterisirende Prosa. Alles dies ist ein Fortschritt. Zwar sind in den
Dorfgeschichten die vorgeführten Stosse noch aus einer kleinen abgeschlossenen Welt,
welche von dem Strom unseres Lebens und unserer Bildung entfernt liegt, noch
hängt seine Schilderung ganz in Situationen, sie ist eine Genremalerei, bei wel¬
cher er das Leben der Individuum nur aus Momente" charakteristrt, aus einzel¬
nen zusammengereihten Zügen, welche er mit unendlicher Sorgfalt und Liebe her¬
austreibt und zu einem Gemälde zusammengesetzt, wie der Mosaickarbeiter die ge¬
schliffenen Steinchen. Aber seine schwarzwälder Banerngestalten sind doch bereits
künstlerisch idealisirte Menschenbilder, deren Eigenthümlichkeit uns trotz des Gegen¬
satzes der Bildung, in welcher wir zu ihnen stehn, heimathlich und vertraulich
entgegen kommt, und die Zeichnung derselben verräth auch da, wo die künstlerische
Zubereitung der Charaktere uns unvollkommen erscheinen könnte, das ehrliche Be¬
streben künstlerisch treu und wahr zu sein. Dasselbe gilt von der Sprache. Es
kommt hier nicht darauf an, ob man die Benutzung schwäbischer Localtöne zum
Charcckterifiren für vortheilhaft hält, sondern darauf, daß in den Dorfgeschichten
endlich wieder eine poetische Sprache geboten wird, welche ohne Prätension auftritt,
zunächst das Bestreben hat, die Dinge schlicht weg zu erzählen, das Einzelne


tiges Volksleben, das junge Selbstgefühl einer starken Nation zur Unterlage haben
müssen, sie braucht Augen, welche scharf und sicher das CharakterDische in allen
Formen des Menschenlebens erkennen und einen Geist, welcher über der Verschie¬
denheit des Details das allgemein Menschliche freudig genießt. Die klare ob¬
jective Darstellung, die liebevolle Charakteristik des Individuellen mit freiem Hu¬
mor sind die Entwickelungsstufen, von welchen eine neue Phase unserer poetischen
Literatur beginnen mag. Zu dieser neuen Zeit führen einzelne Individualitäten
herüber, welche hier Dichter des Details heißen mögen, der Bekannteste unter
ihnen ist Berthold Auerbach.

Die Grenzboten haben seit vorigem Sommer oft Veranlassung gehabt, Auer-
bachs dichterische Thätigkeit zu kritisiren, sie haben es immer vermieden. Wenn
man Jemanden persönlich genau kennt, so hat man nicht in allen Fällen das Recht
über ihn zu schreiben. Nicht als ob die Freundschaft eine öffentliche Kritik nicht
überdauern könnte, sondern weil der kritisirende Freund nicht vermeiden kann seine
genaue Kenntniß von der Seele des Freundes, welche sich ihm vertrauensvoll
geöffnet hat, zu benutzen, um dem Publikum seine Ansichten über die Beschaffenheit
und Größe der befreundeten Dichterkraft zu begründen. Es ist immer etwas Ver¬
rätherei dabei, und deshalb möge der Leser auch hier kein specifizirtes Gutachten
über Vergangenheit und Zukunft eines lieben Mannes erwarten, nur einiges Be¬
kannte stelle ich kurz zusammen.

Die Fortbildung, welche die Poesie in unserer Uebergangsperiode durch Auer¬
bach und seine kleine Schule erfuhr, ist eine dreifache. Die Stoffe werden vater¬
ländische, die Darstellung des Details wird genauer und objectiver, die Sprache
wird charakterisirende Prosa. Alles dies ist ein Fortschritt. Zwar sind in den
Dorfgeschichten die vorgeführten Stosse noch aus einer kleinen abgeschlossenen Welt,
welche von dem Strom unseres Lebens und unserer Bildung entfernt liegt, noch
hängt seine Schilderung ganz in Situationen, sie ist eine Genremalerei, bei wel¬
cher er das Leben der Individuum nur aus Momente» charakteristrt, aus einzel¬
nen zusammengereihten Zügen, welche er mit unendlicher Sorgfalt und Liebe her¬
austreibt und zu einem Gemälde zusammengesetzt, wie der Mosaickarbeiter die ge¬
schliffenen Steinchen. Aber seine schwarzwälder Banerngestalten sind doch bereits
künstlerisch idealisirte Menschenbilder, deren Eigenthümlichkeit uns trotz des Gegen¬
satzes der Bildung, in welcher wir zu ihnen stehn, heimathlich und vertraulich
entgegen kommt, und die Zeichnung derselben verräth auch da, wo die künstlerische
Zubereitung der Charaktere uns unvollkommen erscheinen könnte, das ehrliche Be¬
streben künstlerisch treu und wahr zu sein. Dasselbe gilt von der Sprache. Es
kommt hier nicht darauf an, ob man die Benutzung schwäbischer Localtöne zum
Charcckterifiren für vortheilhaft hält, sondern darauf, daß in den Dorfgeschichten
endlich wieder eine poetische Sprache geboten wird, welche ohne Prätension auftritt,
zunächst das Bestreben hat, die Dinge schlicht weg zu erzählen, das Einzelne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/191>, abgerufen am 05.02.2025.