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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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und der Gegenpartei einigermaßen gerecht werden, wird Zeit und
Nachwelt ihnen die Jndemnitätsbill nicht versagen. Mit Befremden sahen wir
aber, daß das Ministerium Brandenburg es verschmäht hat, das Recht der "ret¬
tenden That" auch hier zu üben, das ihm doch sonst nicht unbekannt ist. Defi¬
nitiv ist nichts octroyirt als das Reichswahlgesctz und gewissermaßen dos Reichs¬
gericht; die Reichsverfassung selbst liegt nur im Entwürfe vor und erwartet ihre
schließliche Feststellung von der Vereinbarung der verbündeten Regierungen mit
einem neuen in zwei Kammern gegliederten Reichstag!

Wenn -- was sehr möglich ist -- der Reichstag oder eine seiner Kammern
seine Zustimmung zu der Verfassung verweigert, was soll dann geschehen? wird
man sagen, der Reichstag sei nur "zur Zustimmung," nicht zur Verwerfung be¬
rufen? oder wird man dann die Einigung ganz aufgeben? oder es doch dahin
kommen lassen, daß, wer dann eben der Mächtigste ist, das Volk oder die Re¬
gierungen, schließlich erklärt: so soll es sein und dabei hat es sein Verbleiben? --
Die Einigung ist definitiv gefährdet, dazu aber noch provisorisch hinausgeschoben;
denn bis die Reichsverfassung definitiv feststeht, existirt nur die Möglichkeit eines
einigen Deutschlands. Hätte man den Entwurf sofort in der bezeichneten Weise
octrvyirt, so wäre diese Einigung, wie sie nun immer ist, wenn sie überhaupt
Lebenskraft hat, doch gleich ins Leben getreten, der deutsche Reichstag wäre ein¬
getreten in seine verfassungsmäßigen Rechte. Der nächste Reichstag hat "ledig¬
lich" die Verfassung zu berathen; so lange er sitzt, ist also die Verfassung selbst
noch uicht anwendbar -- das hat Pater Nadowitz wohl ausgesonnen, ehe er es
vom Grafen Brandenburg niederschreiben ließ. Faktisch ist die Verfassung für die
beitretenden Staaten octrvyirt, provisorisch die octroyirte Verfassung suspendirt
und dabei die Möglichkeit gelassen, wenn das Volkshaus sich etwa doch wider¬
spenstig zeigen sollte, vermittelst der sehr nützlichen Vereinbaruugstheorie die deut¬
sche Einheit definitiv zu beseitigen.

Hierdurch ist zugleich der Gesichtspunkt bezeichnet, von wo aus wir uns auf
eine Kritik des Entwurfes einlassen. Es kauu nicht darauf ankommen, bei jeder
einzelnen Aenderung zu fragen, ob die frühere Fassung uicht vielleicht wünschens¬
werter und zweckmäßiger war; man mag in dem Entwurf manche gute Bestimmung
vermissen, manchen bedenklichen Paragraplien behelligt wünschen, und doch die Annahme
desselben billigen und fördern helfen. Wir fühlen täglich tiefer die heillosen Folgen
der Kleinstaaterei, wo die Negierung ohne Kraft, die Landesvertretung ohne Intelli¬
genz, das Volk ohne politischen Sinn und nationalen Stolz dem Elster Besten ans
dem Pöbel der Souveräne oder aus dem souveränen Pöbel zur Beute wird. Um
Deutsche zu werden und wenn nicht die Einheit, doch einen Anfang der Einheit zu
erringen, dürfen wir kein Opfer scheuen, selbst nicht das Opfer wichtiger Rechte.
Wenn daher die Reichsverfassung "ur sonst lebensfähig ist, werden die Schmäle¬
rungen z.B.. der Grundrechte des deutschen Volkes für den nächsten Reichstag


und der Gegenpartei einigermaßen gerecht werden, wird Zeit und
Nachwelt ihnen die Jndemnitätsbill nicht versagen. Mit Befremden sahen wir
aber, daß das Ministerium Brandenburg es verschmäht hat, das Recht der „ret¬
tenden That" auch hier zu üben, das ihm doch sonst nicht unbekannt ist. Defi¬
nitiv ist nichts octroyirt als das Reichswahlgesctz und gewissermaßen dos Reichs¬
gericht; die Reichsverfassung selbst liegt nur im Entwürfe vor und erwartet ihre
schließliche Feststellung von der Vereinbarung der verbündeten Regierungen mit
einem neuen in zwei Kammern gegliederten Reichstag!

Wenn — was sehr möglich ist — der Reichstag oder eine seiner Kammern
seine Zustimmung zu der Verfassung verweigert, was soll dann geschehen? wird
man sagen, der Reichstag sei nur „zur Zustimmung," nicht zur Verwerfung be¬
rufen? oder wird man dann die Einigung ganz aufgeben? oder es doch dahin
kommen lassen, daß, wer dann eben der Mächtigste ist, das Volk oder die Re¬
gierungen, schließlich erklärt: so soll es sein und dabei hat es sein Verbleiben? —
Die Einigung ist definitiv gefährdet, dazu aber noch provisorisch hinausgeschoben;
denn bis die Reichsverfassung definitiv feststeht, existirt nur die Möglichkeit eines
einigen Deutschlands. Hätte man den Entwurf sofort in der bezeichneten Weise
octrvyirt, so wäre diese Einigung, wie sie nun immer ist, wenn sie überhaupt
Lebenskraft hat, doch gleich ins Leben getreten, der deutsche Reichstag wäre ein¬
getreten in seine verfassungsmäßigen Rechte. Der nächste Reichstag hat „ledig¬
lich" die Verfassung zu berathen; so lange er sitzt, ist also die Verfassung selbst
noch uicht anwendbar — das hat Pater Nadowitz wohl ausgesonnen, ehe er es
vom Grafen Brandenburg niederschreiben ließ. Faktisch ist die Verfassung für die
beitretenden Staaten octrvyirt, provisorisch die octroyirte Verfassung suspendirt
und dabei die Möglichkeit gelassen, wenn das Volkshaus sich etwa doch wider¬
spenstig zeigen sollte, vermittelst der sehr nützlichen Vereinbaruugstheorie die deut¬
sche Einheit definitiv zu beseitigen.

Hierdurch ist zugleich der Gesichtspunkt bezeichnet, von wo aus wir uns auf
eine Kritik des Entwurfes einlassen. Es kauu nicht darauf ankommen, bei jeder
einzelnen Aenderung zu fragen, ob die frühere Fassung uicht vielleicht wünschens¬
werter und zweckmäßiger war; man mag in dem Entwurf manche gute Bestimmung
vermissen, manchen bedenklichen Paragraplien behelligt wünschen, und doch die Annahme
desselben billigen und fördern helfen. Wir fühlen täglich tiefer die heillosen Folgen
der Kleinstaaterei, wo die Negierung ohne Kraft, die Landesvertretung ohne Intelli¬
genz, das Volk ohne politischen Sinn und nationalen Stolz dem Elster Besten ans
dem Pöbel der Souveräne oder aus dem souveränen Pöbel zur Beute wird. Um
Deutsche zu werden und wenn nicht die Einheit, doch einen Anfang der Einheit zu
erringen, dürfen wir kein Opfer scheuen, selbst nicht das Opfer wichtiger Rechte.
Wenn daher die Reichsverfassung »ur sonst lebensfähig ist, werden die Schmäle¬
rungen z.B.. der Grundrechte des deutschen Volkes für den nächsten Reichstag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/101>, abgerufen am 05.02.2025.