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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Chouans nichts nach; die Polizei war wachsam wie unter dem Kaiser, die Di¬
plomatie wußte sich zu schicken. War ja Talleyrand von Geburt ein ZranS soiA.
oeur, obgleich seiner Vergangenheit wegen etwas anrüchig in religiöser Ueberzeu¬
gung. Was gegen den "rechtmäßigen" König gedient, behielt imnier einen kleinen
Makel, bei allem Eifer für den neuen Herrn.

Die damalige Opposition wird sehr unbestimmt mit dem Ausdruck Bourgeoisie
bezeichnet. Wir denken uns unter Bürgerschaft etwas ganz anderes. Es war der
größte Theil der revolutionären und napoleonischen Geldaristokratie, die von dem
Hof und seinen Anhängern zurückgesetzt, von dem neugebacknen Christenthum skan-
dalisirt wurde; es waren die großen Banquiers, denen die leichtsinnige Finanz¬
verwaltung des Staats zu bunt wurde; es war die thatendurstige, durch die Re¬
miniscenz des Kaiserreichs und die Traditionen der polytechnischen Schule und ähn¬
licher Institute aus kriegerische Ehre hiugewieseue Jugend, denen durch das System
der heiligen Allianz alle Aussicht auf Abenteuer in großem Styl verschlossen war,
und die in der neuen Dynastie immer die Schützlinge der Barbaren sah; es war
endlich alles, was Ehrgeiz besaß und gegen die Concurrenten von Geburt nicht
aufkommen konnte. Der Ehrgeiz ist in Frankreich gefährlicher, als in andern
Staaten, weil nirgend die Centralisation so auf die Spitze getrieben ist. Nur
in Paris findet der echte Franzose Ehrenstellen, Erwerb, Vergnügen, Bildung,
literarischen Ruhm und was sonst als Lebensaufgabe erscheint. Ein eignes Leben
in den Provinzen, wenn man die Industrie abrechnet, gibt es nicht; die ganze
Provinz lebt von dem wohlwollenden Lächeln deS Präfecten und Sous-Präfecten.
Es gibt keine selbstständige Aristokratie, keinen selbstständigen Bürgerstand; aller
Adel ist Hofadel, alle Bildung Parisisch, aller Handel in Geldgeschäfte verflochten,
die von den politischen Ereignissen zu Paris abhängig sind. Die große Ent¬
wicklung des Creditsystems ist der mächtigste und zugleich gefährlichste Hebel der
Centralisation. Das sogenannte constitutionelle System ist in keiner Weise ge¬
eignet, diese Aufhebung alles Individuellen zu paralysiren; im Gegentheil arbeitet
es ihr in die Hände, denn jeder Prozeß in einem Marktflecken, in den sich sonst
nur die Negierung mischt, ist ein Gegenstand der Publicität und ganz Frankreich
sitzt darüber zu Rathe. Die Deputirten sehen sich nicht als Vertreter bestimmter
Interessen an; sondern als Aspiranten auf das Portefeuille, wenn sie zur Oppo¬
sition gehören, auf ein einträgliches Amt, wenn sie mit der Negierung poliren.
Die parlamentarische Opposition ist daher hohl und ohne Inhalt, es handelt sich
überall lediglich um die ^r-allo politiyue; die Rednerbühne ist ein Theater, wie
die Schranken des Gerichts, es kommt nicht darauf an, wofür man plaidirt, son¬
dern welches Talent man dabei aufwendet, denn davon hängt die künftige Stel¬
lung ab.

Mit dieser krankhaften Einseitigkeit des politischen Lebens hängen auch die
socialen Verwicklungen zusammen. In den höhern Regionen war in den Zeiten


Grmzb"ten. I. 1""". 2

Chouans nichts nach; die Polizei war wachsam wie unter dem Kaiser, die Di¬
plomatie wußte sich zu schicken. War ja Talleyrand von Geburt ein ZranS soiA.
oeur, obgleich seiner Vergangenheit wegen etwas anrüchig in religiöser Ueberzeu¬
gung. Was gegen den „rechtmäßigen" König gedient, behielt imnier einen kleinen
Makel, bei allem Eifer für den neuen Herrn.

Die damalige Opposition wird sehr unbestimmt mit dem Ausdruck Bourgeoisie
bezeichnet. Wir denken uns unter Bürgerschaft etwas ganz anderes. Es war der
größte Theil der revolutionären und napoleonischen Geldaristokratie, die von dem
Hof und seinen Anhängern zurückgesetzt, von dem neugebacknen Christenthum skan-
dalisirt wurde; es waren die großen Banquiers, denen die leichtsinnige Finanz¬
verwaltung des Staats zu bunt wurde; es war die thatendurstige, durch die Re¬
miniscenz des Kaiserreichs und die Traditionen der polytechnischen Schule und ähn¬
licher Institute aus kriegerische Ehre hiugewieseue Jugend, denen durch das System
der heiligen Allianz alle Aussicht auf Abenteuer in großem Styl verschlossen war,
und die in der neuen Dynastie immer die Schützlinge der Barbaren sah; es war
endlich alles, was Ehrgeiz besaß und gegen die Concurrenten von Geburt nicht
aufkommen konnte. Der Ehrgeiz ist in Frankreich gefährlicher, als in andern
Staaten, weil nirgend die Centralisation so auf die Spitze getrieben ist. Nur
in Paris findet der echte Franzose Ehrenstellen, Erwerb, Vergnügen, Bildung,
literarischen Ruhm und was sonst als Lebensaufgabe erscheint. Ein eignes Leben
in den Provinzen, wenn man die Industrie abrechnet, gibt es nicht; die ganze
Provinz lebt von dem wohlwollenden Lächeln deS Präfecten und Sous-Präfecten.
Es gibt keine selbstständige Aristokratie, keinen selbstständigen Bürgerstand; aller
Adel ist Hofadel, alle Bildung Parisisch, aller Handel in Geldgeschäfte verflochten,
die von den politischen Ereignissen zu Paris abhängig sind. Die große Ent¬
wicklung des Creditsystems ist der mächtigste und zugleich gefährlichste Hebel der
Centralisation. Das sogenannte constitutionelle System ist in keiner Weise ge¬
eignet, diese Aufhebung alles Individuellen zu paralysiren; im Gegentheil arbeitet
es ihr in die Hände, denn jeder Prozeß in einem Marktflecken, in den sich sonst
nur die Negierung mischt, ist ein Gegenstand der Publicität und ganz Frankreich
sitzt darüber zu Rathe. Die Deputirten sehen sich nicht als Vertreter bestimmter
Interessen an; sondern als Aspiranten auf das Portefeuille, wenn sie zur Oppo¬
sition gehören, auf ein einträgliches Amt, wenn sie mit der Negierung poliren.
Die parlamentarische Opposition ist daher hohl und ohne Inhalt, es handelt sich
überall lediglich um die ^r-allo politiyue; die Rednerbühne ist ein Theater, wie
die Schranken des Gerichts, es kommt nicht darauf an, wofür man plaidirt, son¬
dern welches Talent man dabei aufwendet, denn davon hängt die künftige Stel¬
lung ab.

Mit dieser krankhaften Einseitigkeit des politischen Lebens hängen auch die
socialen Verwicklungen zusammen. In den höhern Regionen war in den Zeiten


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[0017] Chouans nichts nach; die Polizei war wachsam wie unter dem Kaiser, die Di¬ plomatie wußte sich zu schicken. War ja Talleyrand von Geburt ein ZranS soiA. oeur, obgleich seiner Vergangenheit wegen etwas anrüchig in religiöser Ueberzeu¬ gung. Was gegen den „rechtmäßigen" König gedient, behielt imnier einen kleinen Makel, bei allem Eifer für den neuen Herrn. Die damalige Opposition wird sehr unbestimmt mit dem Ausdruck Bourgeoisie bezeichnet. Wir denken uns unter Bürgerschaft etwas ganz anderes. Es war der größte Theil der revolutionären und napoleonischen Geldaristokratie, die von dem Hof und seinen Anhängern zurückgesetzt, von dem neugebacknen Christenthum skan- dalisirt wurde; es waren die großen Banquiers, denen die leichtsinnige Finanz¬ verwaltung des Staats zu bunt wurde; es war die thatendurstige, durch die Re¬ miniscenz des Kaiserreichs und die Traditionen der polytechnischen Schule und ähn¬ licher Institute aus kriegerische Ehre hiugewieseue Jugend, denen durch das System der heiligen Allianz alle Aussicht auf Abenteuer in großem Styl verschlossen war, und die in der neuen Dynastie immer die Schützlinge der Barbaren sah; es war endlich alles, was Ehrgeiz besaß und gegen die Concurrenten von Geburt nicht aufkommen konnte. Der Ehrgeiz ist in Frankreich gefährlicher, als in andern Staaten, weil nirgend die Centralisation so auf die Spitze getrieben ist. Nur in Paris findet der echte Franzose Ehrenstellen, Erwerb, Vergnügen, Bildung, literarischen Ruhm und was sonst als Lebensaufgabe erscheint. Ein eignes Leben in den Provinzen, wenn man die Industrie abrechnet, gibt es nicht; die ganze Provinz lebt von dem wohlwollenden Lächeln deS Präfecten und Sous-Präfecten. Es gibt keine selbstständige Aristokratie, keinen selbstständigen Bürgerstand; aller Adel ist Hofadel, alle Bildung Parisisch, aller Handel in Geldgeschäfte verflochten, die von den politischen Ereignissen zu Paris abhängig sind. Die große Ent¬ wicklung des Creditsystems ist der mächtigste und zugleich gefährlichste Hebel der Centralisation. Das sogenannte constitutionelle System ist in keiner Weise ge¬ eignet, diese Aufhebung alles Individuellen zu paralysiren; im Gegentheil arbeitet es ihr in die Hände, denn jeder Prozeß in einem Marktflecken, in den sich sonst nur die Negierung mischt, ist ein Gegenstand der Publicität und ganz Frankreich sitzt darüber zu Rathe. Die Deputirten sehen sich nicht als Vertreter bestimmter Interessen an; sondern als Aspiranten auf das Portefeuille, wenn sie zur Oppo¬ sition gehören, auf ein einträgliches Amt, wenn sie mit der Negierung poliren. Die parlamentarische Opposition ist daher hohl und ohne Inhalt, es handelt sich überall lediglich um die ^r-allo politiyue; die Rednerbühne ist ein Theater, wie die Schranken des Gerichts, es kommt nicht darauf an, wofür man plaidirt, son¬ dern welches Talent man dabei aufwendet, denn davon hängt die künftige Stel¬ lung ab. Mit dieser krankhaften Einseitigkeit des politischen Lebens hängen auch die socialen Verwicklungen zusammen. In den höhern Regionen war in den Zeiten Grmzb«ten. I. 1»«». 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/17>, abgerufen am 25.08.2024.