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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Fortschritt - daß eben so oft ein Streben nach psychologischer, nach unmittelbar
angeschauter Wahrheit vorherrscht, zuweilen mit Hintansetzung des Effects. Gutz-
kow trat zu früh in die Literatur, er hatte nichts weiter erlebt, als die Nach-
wehen des Fanstischen Dranges in der ganzen Verschwommenheit der thatenloser
Restaurationsperiode. Durch paradoxes Aussprechen dieses Dranges erregte er
Aufsehn und zog sich Verfolgungen zu; seitdem hat er zwar mancherlei erfahren,
aber nur "is Mann von Fach, nur in Beziehung auf sich, nur mit Reflexion,
nicht unbefangen und unmittelbar, wie es der Dichter soll, der uns Wahrheit
geben will. Zu ungeduldig, um die Zeit zu studiren und in ihrer Berechtigung
zu begreifen, war er doch nicht kühn genug, ihr offen ins Gesicht zu schlagen ;
er buhlte um ihren Beifall, auch wenn er sie zu verhöhnen schien. Die falsche
Stellung, in welche er seine ins Unendliche strebenden Charaktere dem Ideal
gegenüber fand, er nahm sie selber ein. Darum hat er mit seiner Strebsamkeit
und seinem Talent nie einen künstlerischen oder wissenschaftlichen Ersatz erzielt.
Nur der Gläubige beherrscht das Leben; nur der Frivole befreit sich von ihm,
wer keines von beiden vermag, wird sein Sclave. Daß nebenbei ein Publikum,
dem man die jämmerlichste aller Figuren, die seit der Erfindung der Sprache die
Poesie erschaffen, dein man einen Uriel Acosta als Helden auftischen kann, nicht
dazu geeignet ist, den Dichter zu einem wahrhaft künstlerischen, andächtigen
Schaffen anzuspornen, das kann nnr ein abstracter Gelehrter übersehn, wie eS in
Deutschland noch einige gibt.

Es ist also das Verdienst Ottfrieds, das es in größerer Zahl, als irgend
ein anderes Gutzkow'sches Drama, Motive enthält, die unmittelbar der Natur
abgelauscht sind. Es ist freilich zum Theil auch ein Verdienst der Zeit. Wir
haben eingesehn, daß unser Idealismus, in dem wir uns brüsteten, die hohlste,
erbärmlichste, nichtswürdigste Stimmung war, die je ein Volk entehrt hat; wir
haben uns mit einem gewissen Heißhunger ans die bescheidnen Grashalme des
Realismus geworfen, die uns noch übrig geblieben waren. Berthold Auerbach
und Andere haben dadurch ihr Glück gemacht. Mir fällt in diesem Augenblick
nur ein Beispiel ein, die Scene, wo Gottfried seinen Vater zuerst wiedersieht.
Die Gesellschaft sitzt bei Tisch, Vater und Sohn in der peinlichsten Stimmung,
wagen nicht sich anzusehen, sie sprechen kein Wort, zuletzt essen sie sehr lebhaft,
um nnr nicht aufblicken zu dürfe". Die Andern, um ihre Verlegenheit zu be¬
mänteln, sprechen das verdrehteste, unpassendste Zeug durcheinander und begehen
eben dadurch zahlreiche Verstöße gegen die Situation. Das alles nimmt sich auf
dem Theater ungeschickt, aber es ist wahr empfunden, und haben wir nur erst
diesen objectiven Gehalt, so wird sich das Arrangement schon finden.

Uebersehen wir nun die Träger der sittlichen Idee, die Charactere, auf die
ebenfalls ein viel größerer Fleiß verwendet ist, als gewöhnlich, so unterscheiden
wir zwei Gruppen: die strebsame und die befriedigte. Zu der letztern gehört der


Fortschritt - daß eben so oft ein Streben nach psychologischer, nach unmittelbar
angeschauter Wahrheit vorherrscht, zuweilen mit Hintansetzung des Effects. Gutz-
kow trat zu früh in die Literatur, er hatte nichts weiter erlebt, als die Nach-
wehen des Fanstischen Dranges in der ganzen Verschwommenheit der thatenloser
Restaurationsperiode. Durch paradoxes Aussprechen dieses Dranges erregte er
Aufsehn und zog sich Verfolgungen zu; seitdem hat er zwar mancherlei erfahren,
aber nur «is Mann von Fach, nur in Beziehung auf sich, nur mit Reflexion,
nicht unbefangen und unmittelbar, wie es der Dichter soll, der uns Wahrheit
geben will. Zu ungeduldig, um die Zeit zu studiren und in ihrer Berechtigung
zu begreifen, war er doch nicht kühn genug, ihr offen ins Gesicht zu schlagen ;
er buhlte um ihren Beifall, auch wenn er sie zu verhöhnen schien. Die falsche
Stellung, in welche er seine ins Unendliche strebenden Charaktere dem Ideal
gegenüber fand, er nahm sie selber ein. Darum hat er mit seiner Strebsamkeit
und seinem Talent nie einen künstlerischen oder wissenschaftlichen Ersatz erzielt.
Nur der Gläubige beherrscht das Leben; nur der Frivole befreit sich von ihm,
wer keines von beiden vermag, wird sein Sclave. Daß nebenbei ein Publikum,
dem man die jämmerlichste aller Figuren, die seit der Erfindung der Sprache die
Poesie erschaffen, dein man einen Uriel Acosta als Helden auftischen kann, nicht
dazu geeignet ist, den Dichter zu einem wahrhaft künstlerischen, andächtigen
Schaffen anzuspornen, das kann nnr ein abstracter Gelehrter übersehn, wie eS in
Deutschland noch einige gibt.

Es ist also das Verdienst Ottfrieds, das es in größerer Zahl, als irgend
ein anderes Gutzkow'sches Drama, Motive enthält, die unmittelbar der Natur
abgelauscht sind. Es ist freilich zum Theil auch ein Verdienst der Zeit. Wir
haben eingesehn, daß unser Idealismus, in dem wir uns brüsteten, die hohlste,
erbärmlichste, nichtswürdigste Stimmung war, die je ein Volk entehrt hat; wir
haben uns mit einem gewissen Heißhunger ans die bescheidnen Grashalme des
Realismus geworfen, die uns noch übrig geblieben waren. Berthold Auerbach
und Andere haben dadurch ihr Glück gemacht. Mir fällt in diesem Augenblick
nur ein Beispiel ein, die Scene, wo Gottfried seinen Vater zuerst wiedersieht.
Die Gesellschaft sitzt bei Tisch, Vater und Sohn in der peinlichsten Stimmung,
wagen nicht sich anzusehen, sie sprechen kein Wort, zuletzt essen sie sehr lebhaft,
um nnr nicht aufblicken zu dürfe«. Die Andern, um ihre Verlegenheit zu be¬
mänteln, sprechen das verdrehteste, unpassendste Zeug durcheinander und begehen
eben dadurch zahlreiche Verstöße gegen die Situation. Das alles nimmt sich auf
dem Theater ungeschickt, aber es ist wahr empfunden, und haben wir nur erst
diesen objectiven Gehalt, so wird sich das Arrangement schon finden.

Uebersehen wir nun die Träger der sittlichen Idee, die Charactere, auf die
ebenfalls ein viel größerer Fleiß verwendet ist, als gewöhnlich, so unterscheiden
wir zwei Gruppen: die strebsame und die befriedigte. Zu der letztern gehört der


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[0103] Fortschritt - daß eben so oft ein Streben nach psychologischer, nach unmittelbar angeschauter Wahrheit vorherrscht, zuweilen mit Hintansetzung des Effects. Gutz- kow trat zu früh in die Literatur, er hatte nichts weiter erlebt, als die Nach- wehen des Fanstischen Dranges in der ganzen Verschwommenheit der thatenloser Restaurationsperiode. Durch paradoxes Aussprechen dieses Dranges erregte er Aufsehn und zog sich Verfolgungen zu; seitdem hat er zwar mancherlei erfahren, aber nur «is Mann von Fach, nur in Beziehung auf sich, nur mit Reflexion, nicht unbefangen und unmittelbar, wie es der Dichter soll, der uns Wahrheit geben will. Zu ungeduldig, um die Zeit zu studiren und in ihrer Berechtigung zu begreifen, war er doch nicht kühn genug, ihr offen ins Gesicht zu schlagen ; er buhlte um ihren Beifall, auch wenn er sie zu verhöhnen schien. Die falsche Stellung, in welche er seine ins Unendliche strebenden Charaktere dem Ideal gegenüber fand, er nahm sie selber ein. Darum hat er mit seiner Strebsamkeit und seinem Talent nie einen künstlerischen oder wissenschaftlichen Ersatz erzielt. Nur der Gläubige beherrscht das Leben; nur der Frivole befreit sich von ihm, wer keines von beiden vermag, wird sein Sclave. Daß nebenbei ein Publikum, dem man die jämmerlichste aller Figuren, die seit der Erfindung der Sprache die Poesie erschaffen, dein man einen Uriel Acosta als Helden auftischen kann, nicht dazu geeignet ist, den Dichter zu einem wahrhaft künstlerischen, andächtigen Schaffen anzuspornen, das kann nnr ein abstracter Gelehrter übersehn, wie eS in Deutschland noch einige gibt. Es ist also das Verdienst Ottfrieds, das es in größerer Zahl, als irgend ein anderes Gutzkow'sches Drama, Motive enthält, die unmittelbar der Natur abgelauscht sind. Es ist freilich zum Theil auch ein Verdienst der Zeit. Wir haben eingesehn, daß unser Idealismus, in dem wir uns brüsteten, die hohlste, erbärmlichste, nichtswürdigste Stimmung war, die je ein Volk entehrt hat; wir haben uns mit einem gewissen Heißhunger ans die bescheidnen Grashalme des Realismus geworfen, die uns noch übrig geblieben waren. Berthold Auerbach und Andere haben dadurch ihr Glück gemacht. Mir fällt in diesem Augenblick nur ein Beispiel ein, die Scene, wo Gottfried seinen Vater zuerst wiedersieht. Die Gesellschaft sitzt bei Tisch, Vater und Sohn in der peinlichsten Stimmung, wagen nicht sich anzusehen, sie sprechen kein Wort, zuletzt essen sie sehr lebhaft, um nnr nicht aufblicken zu dürfe«. Die Andern, um ihre Verlegenheit zu be¬ mänteln, sprechen das verdrehteste, unpassendste Zeug durcheinander und begehen eben dadurch zahlreiche Verstöße gegen die Situation. Das alles nimmt sich auf dem Theater ungeschickt, aber es ist wahr empfunden, und haben wir nur erst diesen objectiven Gehalt, so wird sich das Arrangement schon finden. Uebersehen wir nun die Träger der sittlichen Idee, die Charactere, auf die ebenfalls ein viel größerer Fleiß verwendet ist, als gewöhnlich, so unterscheiden wir zwei Gruppen: die strebsame und die befriedigte. Zu der letztern gehört der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/103>, abgerufen am 23.07.2024.