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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Verlobungssaal. Die Gäste sind zahlreich anwesend. Sidonie hat eine hef¬
tige Scene mit ihrer Schwester; sie wirst ihr vor, einen solchen Geliebten nicht
zu verdienen; "ihm gegenüber würde sie Semele sein, die in der Umarmung des
Donnerers zusammenschmölze." Hugo stürzt herein: thut mir sehr leid, meine
Herrschaften, aber öffentliche Rücksichten gehn privaten vor; Freund Götz ist so
eben zum Gesandtschaftssecretär ernannt und als Courrier mit dringenden Depeschen
nach da und dahin expedirt, er läßt sich empfehlen und wird nächstens schreiben.
Sidonie triumphirt, der Commerzienrath freut sich über die Standeserhöhung sei¬
nes Schwiegersohnes, die frivolen Personen gehen ab, Agnes bleibt in Ohnmacht
liegen, indem tritt der Pfarrer ein und blickt gen Himmel. Große Gruppe.

Fünfter Act. Die beiden Freunde leben auf ihrer Gesandtschaft in Hülle
und Fülle, Ottfried hat an Agnes nur zwei bis drei Briefe geschrieben, dagegen
hat er die officiellen Depeschen auf das Vortrefflichste redigirt. Hugo ist im Be¬
griff, auf einen höhern Posten berufen zu werden; dazu braucht er eine Frau:
"Ich weiß in der Eile keine andere, als Sidonie, sie wird auch wohl keine
Schwierigkeiten machen, ihr liebt euch zwar, indeß was thut's, einen Bürgerlichen
wird sie doch nicht heirathen, und ihr könnt ja nachher eben so gut--" "Nachher?!
das ist gegen die Moral! ich schreibe sogleich an Sidonie; zudem liebe ich sie
eigentlich nicht mehr." Es ist Nacht; der Pfarrer und Agnes treten ein, sie
sind dem treulosen Liebhaber gefolgt. Der Vater ist im Begriff seinem Sohn zu
fluchen, da sagt dieser ruhig und ernst: "Halt! lies erst diesen Brief." Sie lesen
ihn: "Sidonie, ich entsage Ihnen! Sie sind eigentlich zu unweiblich, und ich
würde zu Agnes zurückkehren, wenn ich ihrer noch würdig wäre!" -- "Noch
würdig," ruft diese entzückt! "welche Idee! Ottfried, kannst Du Dich deun herab¬
lassen, mich zu lieben?" -- "Nicht Ottfried, sondern Gottfried." Sidonie sucht
ihre Verlegenheit dnrch einige unpassende Redensarten zu bemänteln, der Com¬
merzienrath erregt durch Späße Heiterkeit, und die Befriedigung wird dadurch
vollständig, daß die Regierung, davon unterrichtet, daß jene Depeschen nicht von
Hugo, sondern von Gottfried herrühren, diesen als Geheimerath ins Ministerium
der auswärtigen Angelegenheiten beruft.

Die Handlung ist einfach, wie man sieht; sie ist dennoch weniger durchsichtig,
als man sonst bei Gutzkow gewohnt ist, weil sie durch episodische Züge, psycholo¬
gische Feinheiten u. tgi. verdeckt ist. Der Hauptfehler liegt darin, daß wir nur
eine Reihe fertiger Zustände vor uns sehen; die eigentlichen Krisen, der Sünden¬
fall und die Besserung des Helden, gehen in den Zwischenacten vor. Seine in¬
nere Geschichte, worauf hier der Hcmptaccent gelegt ist, erleben wir novellistisch,
nicht dramatisch. Daß in der Gruppirung der Handlungen mehrfach der theatra¬
lische Gesichtspunkt den dramatischen in den Hintergrund drängt, habe ich schon
in der Skizze angedeutet.

Dagegen ist nicht zu verkennen -- und das ist bei G utzkow ein wesentlicher


Verlobungssaal. Die Gäste sind zahlreich anwesend. Sidonie hat eine hef¬
tige Scene mit ihrer Schwester; sie wirst ihr vor, einen solchen Geliebten nicht
zu verdienen; „ihm gegenüber würde sie Semele sein, die in der Umarmung des
Donnerers zusammenschmölze." Hugo stürzt herein: thut mir sehr leid, meine
Herrschaften, aber öffentliche Rücksichten gehn privaten vor; Freund Götz ist so
eben zum Gesandtschaftssecretär ernannt und als Courrier mit dringenden Depeschen
nach da und dahin expedirt, er läßt sich empfehlen und wird nächstens schreiben.
Sidonie triumphirt, der Commerzienrath freut sich über die Standeserhöhung sei¬
nes Schwiegersohnes, die frivolen Personen gehen ab, Agnes bleibt in Ohnmacht
liegen, indem tritt der Pfarrer ein und blickt gen Himmel. Große Gruppe.

Fünfter Act. Die beiden Freunde leben auf ihrer Gesandtschaft in Hülle
und Fülle, Ottfried hat an Agnes nur zwei bis drei Briefe geschrieben, dagegen
hat er die officiellen Depeschen auf das Vortrefflichste redigirt. Hugo ist im Be¬
griff, auf einen höhern Posten berufen zu werden; dazu braucht er eine Frau:
„Ich weiß in der Eile keine andere, als Sidonie, sie wird auch wohl keine
Schwierigkeiten machen, ihr liebt euch zwar, indeß was thut's, einen Bürgerlichen
wird sie doch nicht heirathen, und ihr könnt ja nachher eben so gut—" „Nachher?!
das ist gegen die Moral! ich schreibe sogleich an Sidonie; zudem liebe ich sie
eigentlich nicht mehr." Es ist Nacht; der Pfarrer und Agnes treten ein, sie
sind dem treulosen Liebhaber gefolgt. Der Vater ist im Begriff seinem Sohn zu
fluchen, da sagt dieser ruhig und ernst: „Halt! lies erst diesen Brief." Sie lesen
ihn: „Sidonie, ich entsage Ihnen! Sie sind eigentlich zu unweiblich, und ich
würde zu Agnes zurückkehren, wenn ich ihrer noch würdig wäre!" — „Noch
würdig," ruft diese entzückt! „welche Idee! Ottfried, kannst Du Dich deun herab¬
lassen, mich zu lieben?" — „Nicht Ottfried, sondern Gottfried." Sidonie sucht
ihre Verlegenheit dnrch einige unpassende Redensarten zu bemänteln, der Com¬
merzienrath erregt durch Späße Heiterkeit, und die Befriedigung wird dadurch
vollständig, daß die Regierung, davon unterrichtet, daß jene Depeschen nicht von
Hugo, sondern von Gottfried herrühren, diesen als Geheimerath ins Ministerium
der auswärtigen Angelegenheiten beruft.

Die Handlung ist einfach, wie man sieht; sie ist dennoch weniger durchsichtig,
als man sonst bei Gutzkow gewohnt ist, weil sie durch episodische Züge, psycholo¬
gische Feinheiten u. tgi. verdeckt ist. Der Hauptfehler liegt darin, daß wir nur
eine Reihe fertiger Zustände vor uns sehen; die eigentlichen Krisen, der Sünden¬
fall und die Besserung des Helden, gehen in den Zwischenacten vor. Seine in¬
nere Geschichte, worauf hier der Hcmptaccent gelegt ist, erleben wir novellistisch,
nicht dramatisch. Daß in der Gruppirung der Handlungen mehrfach der theatra¬
lische Gesichtspunkt den dramatischen in den Hintergrund drängt, habe ich schon
in der Skizze angedeutet.

Dagegen ist nicht zu verkennen — und das ist bei G utzkow ein wesentlicher


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[0102] Verlobungssaal. Die Gäste sind zahlreich anwesend. Sidonie hat eine hef¬ tige Scene mit ihrer Schwester; sie wirst ihr vor, einen solchen Geliebten nicht zu verdienen; „ihm gegenüber würde sie Semele sein, die in der Umarmung des Donnerers zusammenschmölze." Hugo stürzt herein: thut mir sehr leid, meine Herrschaften, aber öffentliche Rücksichten gehn privaten vor; Freund Götz ist so eben zum Gesandtschaftssecretär ernannt und als Courrier mit dringenden Depeschen nach da und dahin expedirt, er läßt sich empfehlen und wird nächstens schreiben. Sidonie triumphirt, der Commerzienrath freut sich über die Standeserhöhung sei¬ nes Schwiegersohnes, die frivolen Personen gehen ab, Agnes bleibt in Ohnmacht liegen, indem tritt der Pfarrer ein und blickt gen Himmel. Große Gruppe. Fünfter Act. Die beiden Freunde leben auf ihrer Gesandtschaft in Hülle und Fülle, Ottfried hat an Agnes nur zwei bis drei Briefe geschrieben, dagegen hat er die officiellen Depeschen auf das Vortrefflichste redigirt. Hugo ist im Be¬ griff, auf einen höhern Posten berufen zu werden; dazu braucht er eine Frau: „Ich weiß in der Eile keine andere, als Sidonie, sie wird auch wohl keine Schwierigkeiten machen, ihr liebt euch zwar, indeß was thut's, einen Bürgerlichen wird sie doch nicht heirathen, und ihr könnt ja nachher eben so gut—" „Nachher?! das ist gegen die Moral! ich schreibe sogleich an Sidonie; zudem liebe ich sie eigentlich nicht mehr." Es ist Nacht; der Pfarrer und Agnes treten ein, sie sind dem treulosen Liebhaber gefolgt. Der Vater ist im Begriff seinem Sohn zu fluchen, da sagt dieser ruhig und ernst: „Halt! lies erst diesen Brief." Sie lesen ihn: „Sidonie, ich entsage Ihnen! Sie sind eigentlich zu unweiblich, und ich würde zu Agnes zurückkehren, wenn ich ihrer noch würdig wäre!" — „Noch würdig," ruft diese entzückt! „welche Idee! Ottfried, kannst Du Dich deun herab¬ lassen, mich zu lieben?" — „Nicht Ottfried, sondern Gottfried." Sidonie sucht ihre Verlegenheit dnrch einige unpassende Redensarten zu bemänteln, der Com¬ merzienrath erregt durch Späße Heiterkeit, und die Befriedigung wird dadurch vollständig, daß die Regierung, davon unterrichtet, daß jene Depeschen nicht von Hugo, sondern von Gottfried herrühren, diesen als Geheimerath ins Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten beruft. Die Handlung ist einfach, wie man sieht; sie ist dennoch weniger durchsichtig, als man sonst bei Gutzkow gewohnt ist, weil sie durch episodische Züge, psycholo¬ gische Feinheiten u. tgi. verdeckt ist. Der Hauptfehler liegt darin, daß wir nur eine Reihe fertiger Zustände vor uns sehen; die eigentlichen Krisen, der Sünden¬ fall und die Besserung des Helden, gehen in den Zwischenacten vor. Seine in¬ nere Geschichte, worauf hier der Hcmptaccent gelegt ist, erleben wir novellistisch, nicht dramatisch. Daß in der Gruppirung der Handlungen mehrfach der theatra¬ lische Gesichtspunkt den dramatischen in den Hintergrund drängt, habe ich schon in der Skizze angedeutet. Dagegen ist nicht zu verkennen — und das ist bei G utzkow ein wesentlicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/102>, abgerufen am 23.07.2024.