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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Pfarrer, Agnes und die Haushälterin, die dein alten Commerzienrath die Lügen-
haftigkeit seines Wesens auf eine für Domestiken etwas ungewöhnliche Weise vor¬
hält. Der Pfarrer ist mehr Figur als Character, er weiß den moralischen Anstand
würdig zu vertreten; ein weiteres menschliches Interesse erregt er nicht. Agnes
ist zu schwach gehalten; es ist wohl denkbar, daß ein strebsamer Mensch, nachdem
er das Leben mit einiger Virtuosität ausgekostet, in einer anspruchslosen Natur
Ruhe findet, aber diese muß in sich fest und sicher sein; was ihr an Perspective
abgeht, muß die ursprüngliche Intensität der Anlage ersetzen. Ein Weib, das nichts
hat, als seine Liebe, das zu dem Geliebten, demüthig ausblickend, sagt: Ottfried,
wie kannst du dich herablasse", mich zu lieben! kann diesen Halt nicht geben,
wenigstens nicht einen sittlichen; denn zu einem gewissen Abschluß kommt zuletzt
freilich Jeder, auch der blasirte Genußmensch.

Von größerm Interesse ist die Klasse der Strebsamen oder Unwahren. Ab¬
gesehen von dem Chorus der hohlen Welt -- in der sich ein Pole auszeichnet,
dessen Rolle darin besteht, zu Allem "Särr gutt" zu sagen, tritt zunächst ein
untergeordneter Lügner hervor, der Commerzienrath. Er hat die Marotte, für
gefühlvoll zu gelten, läßt sich über jede Kleinigkeit in Empfindungen aus, und ist
dabei vou Natur so kleinlich und egoistisch als möglich. Es geht Gutzkow mit
solchen Characteren wie Bulwer. Zuerst gibt er ihre Grundzüge im Allgemeinen,
setzt dann hinzu, daher kommt es, daß sie sich in den betreffenden Fällen so und
so benehmen, dann kommen die Fälle, und sie benehmen sich so und so. Solche
Figuren können nnr durch eine humoristische Darstellung gerechtfertigt werden, der
Humor aber geht Gutzkow ganz ab, wie allen kleinlich strebsamen Naturen. Es
bleibt bei der Satyre, und diese in den dicksten Farben. Z, B. der Commerzien¬
rath liebt es, bei feierlichen Gelegenheiten seine Gefühle als Improvisation vorzu¬
tragen; diese Improvisationen sind aber memonrt, er hat sie schriftlich aufgesetzt,
sorgfältig corrigirt, und läßt sich von seiner Enkelin überhören. Als Andeutung
geht das, aber in einer bis ins kleinste detailirteu Scene ist es unerträglich. Das
Kind bricht ein Glas entzwei, er gibt ihr heimlich einen Puff, und sagt dann laut:
du süßer kleiner Engel! das kommt zwei- bis dreimal vor. Er schenkt seiner
Tochter ein paar Lonisd'or, und wird darüber so gerührt, daß er in Thränen
ausbricht, gen Himmel blickt, von seinem Tode faselt u. s. w. Die glücklichste
Scene ist ein Rausch, in dem er seine wahre Natur enthüllt, er docirt, die
Menschen seien Raubthiere, darum hätten sie scharfe Vorderzähne, er zeigt auf
seine Zähne, findet, daß er keine mehr hat, und kommt dadurch in die
Idee des Todes und durch diese wieder in die offizielle Trauerstimmung. Dabei
ist der Dichter so gutmüthig, den in der Anlage gut gedachten schroffen Egoismus
nicht festzuhalten, denn der alte Commerzienrath gibt wirklich nach, wenn man
ihm gehörig zu Herzen redet. Jedenfalls bleibt diese Figur, trotz ihrer dicken
Farbe, für den Darsteller eine dankbare und wurde bei der Leipziger Aufführung


Pfarrer, Agnes und die Haushälterin, die dein alten Commerzienrath die Lügen-
haftigkeit seines Wesens auf eine für Domestiken etwas ungewöhnliche Weise vor¬
hält. Der Pfarrer ist mehr Figur als Character, er weiß den moralischen Anstand
würdig zu vertreten; ein weiteres menschliches Interesse erregt er nicht. Agnes
ist zu schwach gehalten; es ist wohl denkbar, daß ein strebsamer Mensch, nachdem
er das Leben mit einiger Virtuosität ausgekostet, in einer anspruchslosen Natur
Ruhe findet, aber diese muß in sich fest und sicher sein; was ihr an Perspective
abgeht, muß die ursprüngliche Intensität der Anlage ersetzen. Ein Weib, das nichts
hat, als seine Liebe, das zu dem Geliebten, demüthig ausblickend, sagt: Ottfried,
wie kannst du dich herablasse», mich zu lieben! kann diesen Halt nicht geben,
wenigstens nicht einen sittlichen; denn zu einem gewissen Abschluß kommt zuletzt
freilich Jeder, auch der blasirte Genußmensch.

Von größerm Interesse ist die Klasse der Strebsamen oder Unwahren. Ab¬
gesehen von dem Chorus der hohlen Welt — in der sich ein Pole auszeichnet,
dessen Rolle darin besteht, zu Allem „Särr gutt" zu sagen, tritt zunächst ein
untergeordneter Lügner hervor, der Commerzienrath. Er hat die Marotte, für
gefühlvoll zu gelten, läßt sich über jede Kleinigkeit in Empfindungen aus, und ist
dabei vou Natur so kleinlich und egoistisch als möglich. Es geht Gutzkow mit
solchen Characteren wie Bulwer. Zuerst gibt er ihre Grundzüge im Allgemeinen,
setzt dann hinzu, daher kommt es, daß sie sich in den betreffenden Fällen so und
so benehmen, dann kommen die Fälle, und sie benehmen sich so und so. Solche
Figuren können nnr durch eine humoristische Darstellung gerechtfertigt werden, der
Humor aber geht Gutzkow ganz ab, wie allen kleinlich strebsamen Naturen. Es
bleibt bei der Satyre, und diese in den dicksten Farben. Z, B. der Commerzien¬
rath liebt es, bei feierlichen Gelegenheiten seine Gefühle als Improvisation vorzu¬
tragen; diese Improvisationen sind aber memonrt, er hat sie schriftlich aufgesetzt,
sorgfältig corrigirt, und läßt sich von seiner Enkelin überhören. Als Andeutung
geht das, aber in einer bis ins kleinste detailirteu Scene ist es unerträglich. Das
Kind bricht ein Glas entzwei, er gibt ihr heimlich einen Puff, und sagt dann laut:
du süßer kleiner Engel! das kommt zwei- bis dreimal vor. Er schenkt seiner
Tochter ein paar Lonisd'or, und wird darüber so gerührt, daß er in Thränen
ausbricht, gen Himmel blickt, von seinem Tode faselt u. s. w. Die glücklichste
Scene ist ein Rausch, in dem er seine wahre Natur enthüllt, er docirt, die
Menschen seien Raubthiere, darum hätten sie scharfe Vorderzähne, er zeigt auf
seine Zähne, findet, daß er keine mehr hat, und kommt dadurch in die
Idee des Todes und durch diese wieder in die offizielle Trauerstimmung. Dabei
ist der Dichter so gutmüthig, den in der Anlage gut gedachten schroffen Egoismus
nicht festzuhalten, denn der alte Commerzienrath gibt wirklich nach, wenn man
ihm gehörig zu Herzen redet. Jedenfalls bleibt diese Figur, trotz ihrer dicken
Farbe, für den Darsteller eine dankbare und wurde bei der Leipziger Aufführung


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[0104] Pfarrer, Agnes und die Haushälterin, die dein alten Commerzienrath die Lügen- haftigkeit seines Wesens auf eine für Domestiken etwas ungewöhnliche Weise vor¬ hält. Der Pfarrer ist mehr Figur als Character, er weiß den moralischen Anstand würdig zu vertreten; ein weiteres menschliches Interesse erregt er nicht. Agnes ist zu schwach gehalten; es ist wohl denkbar, daß ein strebsamer Mensch, nachdem er das Leben mit einiger Virtuosität ausgekostet, in einer anspruchslosen Natur Ruhe findet, aber diese muß in sich fest und sicher sein; was ihr an Perspective abgeht, muß die ursprüngliche Intensität der Anlage ersetzen. Ein Weib, das nichts hat, als seine Liebe, das zu dem Geliebten, demüthig ausblickend, sagt: Ottfried, wie kannst du dich herablasse», mich zu lieben! kann diesen Halt nicht geben, wenigstens nicht einen sittlichen; denn zu einem gewissen Abschluß kommt zuletzt freilich Jeder, auch der blasirte Genußmensch. Von größerm Interesse ist die Klasse der Strebsamen oder Unwahren. Ab¬ gesehen von dem Chorus der hohlen Welt — in der sich ein Pole auszeichnet, dessen Rolle darin besteht, zu Allem „Särr gutt" zu sagen, tritt zunächst ein untergeordneter Lügner hervor, der Commerzienrath. Er hat die Marotte, für gefühlvoll zu gelten, läßt sich über jede Kleinigkeit in Empfindungen aus, und ist dabei vou Natur so kleinlich und egoistisch als möglich. Es geht Gutzkow mit solchen Characteren wie Bulwer. Zuerst gibt er ihre Grundzüge im Allgemeinen, setzt dann hinzu, daher kommt es, daß sie sich in den betreffenden Fällen so und so benehmen, dann kommen die Fälle, und sie benehmen sich so und so. Solche Figuren können nnr durch eine humoristische Darstellung gerechtfertigt werden, der Humor aber geht Gutzkow ganz ab, wie allen kleinlich strebsamen Naturen. Es bleibt bei der Satyre, und diese in den dicksten Farben. Z, B. der Commerzien¬ rath liebt es, bei feierlichen Gelegenheiten seine Gefühle als Improvisation vorzu¬ tragen; diese Improvisationen sind aber memonrt, er hat sie schriftlich aufgesetzt, sorgfältig corrigirt, und läßt sich von seiner Enkelin überhören. Als Andeutung geht das, aber in einer bis ins kleinste detailirteu Scene ist es unerträglich. Das Kind bricht ein Glas entzwei, er gibt ihr heimlich einen Puff, und sagt dann laut: du süßer kleiner Engel! das kommt zwei- bis dreimal vor. Er schenkt seiner Tochter ein paar Lonisd'or, und wird darüber so gerührt, daß er in Thränen ausbricht, gen Himmel blickt, von seinem Tode faselt u. s. w. Die glücklichste Scene ist ein Rausch, in dem er seine wahre Natur enthüllt, er docirt, die Menschen seien Raubthiere, darum hätten sie scharfe Vorderzähne, er zeigt auf seine Zähne, findet, daß er keine mehr hat, und kommt dadurch in die Idee des Todes und durch diese wieder in die offizielle Trauerstimmung. Dabei ist der Dichter so gutmüthig, den in der Anlage gut gedachten schroffen Egoismus nicht festzuhalten, denn der alte Commerzienrath gibt wirklich nach, wenn man ihm gehörig zu Herzen redet. Jedenfalls bleibt diese Figur, trotz ihrer dicken Farbe, für den Darsteller eine dankbare und wurde bei der Leipziger Aufführung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/104>, abgerufen am 23.07.2024.