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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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genommen, mit wachsender Liebe umfaßt und nie ist aus dem Volke eine Demon¬
stration von baierischen Sondergelüsten hervorgebrochen. Unsers Bürgerschaft
kämpfte gegen die Opfer an, welche die künftige Reichseinheit erheischt; der Kampf
ist ein ehrlicher; denn ein leichtsinniger Uebcrstnrz in eine absolute Gewerbefrei¬
heit würde, ganz abgesehen davon, daß er anderswo auch keinen Segen gebracht,
hier in Eile ein Proletariat hervorrufen, das im Süden unendlich gefährlicher
werden müßte, als es im Norden gewesen. Es fehlen alle Bedingungen und Ver¬
hältnisse, um demselben, wenn es einmal eingebrochen, Geleise zu geben. Wir
werden uus aus den Gefängnißzellen der alten Gerechtsame, ohne sie zu zerbre¬
chen, schon nach und nach in die Freiheit eines umfassenden Gewerbetriebes hin¬
auswinden, sobald nur durch das steigende Interesse an der Politik die Kruste
des Philisterthums abgeschält und der Blick in das deutsche Ganze geöffnet wird.
Und dieses politische Interesse steigt mit jedem Tage, wie jeder Reisende sich über¬
zeugen mag, wenn er die Ankunft der täglichen Posten abwarten will. Das Pvst-
gebäude ist dann wie umlagert, einer reißt die Zeitungen dem anderen aus den
Händen; die Conditoreien, die Caso's, die Bierstuben füllen sich alsbald, und
mit Hast werden die Blätter oft sogar, damit es nnr alle zu gleicher Zeit hö¬
ren können, laut vorgelesen und bis in's Kleinste besprochen. Der gemeine Mann
hier und in der nächsten Umgebung, ja tief in's Land hinein verschafft sich für
einen Kreuzer, sage für einen Kreuzer, die Kunde der Tagesereignisse durch ein
Blatt, welches täglich dreimal ausgegeben wird, am frühen Morgen, am Mittag
und am späten Abend und den Titel: "Neueste Nachrichten" führt. Wie unge¬
heuer die Verbreitung dieses Blattes ist, möge daraus erhellen, daß es trotz
seiner enormen und vielleicht in Deutschland beispiellosen Billigkeit, seinen Jnha-
haber, einem Buchdrucker aus Leipzig, täglich drei Louisdor reinen Gewinn ab¬
werfen soll. In diesem Blatte werden in populärer Weise alle Mängel des Hos-
Regiernngs-Behörden-Staats-Stadt-Gemeinde-, ja selbst Familienlebens kühn
und schonungslos angegriffen und beleuchtet, so daß dasselbe bereits eine förm¬
liche Zuchtruthe des gewöhnlichen Volkslebens geworden ist. Der Bursche droht
seinem Meister, der Soldat seinem Offizier, ja die Fran dem Manne, ihn in
die "neuesten Nachrichten" setzen zu lassen, wenn es Conflicte gegeben. Es gibt
Leute genug, die eine so scharfe Luft Mißbrauch, Prcßfrechheit nennen; allein sie
übersehen das Wohlthätige einer solchen Selbstcontrole des Volkes. -- In un¬
serem "literarischen Verein," wie er sich sonderbar genug nennt, im Local des
Odcon, liegen Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften auf und hier findet
die ratio Politik aller Stände ihre Sättigung; die großen und die kleinen Eitel¬
keiten, die verbrauchten und die hoffnungsvollen Staatsmänner, die beschäftigten
und brodlosen Literaten, die Negiernngskampfhähne und die dünnleibigen Aspi¬
ranten, die feinfühligen Polizeispitzen und starkknochigen Demokraten, neugebackene
und verwitterte Offiziere sitzen hier friedlich "Itissimo silvntlo bunt durcheinander.


genommen, mit wachsender Liebe umfaßt und nie ist aus dem Volke eine Demon¬
stration von baierischen Sondergelüsten hervorgebrochen. Unsers Bürgerschaft
kämpfte gegen die Opfer an, welche die künftige Reichseinheit erheischt; der Kampf
ist ein ehrlicher; denn ein leichtsinniger Uebcrstnrz in eine absolute Gewerbefrei¬
heit würde, ganz abgesehen davon, daß er anderswo auch keinen Segen gebracht,
hier in Eile ein Proletariat hervorrufen, das im Süden unendlich gefährlicher
werden müßte, als es im Norden gewesen. Es fehlen alle Bedingungen und Ver¬
hältnisse, um demselben, wenn es einmal eingebrochen, Geleise zu geben. Wir
werden uus aus den Gefängnißzellen der alten Gerechtsame, ohne sie zu zerbre¬
chen, schon nach und nach in die Freiheit eines umfassenden Gewerbetriebes hin¬
auswinden, sobald nur durch das steigende Interesse an der Politik die Kruste
des Philisterthums abgeschält und der Blick in das deutsche Ganze geöffnet wird.
Und dieses politische Interesse steigt mit jedem Tage, wie jeder Reisende sich über¬
zeugen mag, wenn er die Ankunft der täglichen Posten abwarten will. Das Pvst-
gebäude ist dann wie umlagert, einer reißt die Zeitungen dem anderen aus den
Händen; die Conditoreien, die Caso's, die Bierstuben füllen sich alsbald, und
mit Hast werden die Blätter oft sogar, damit es nnr alle zu gleicher Zeit hö¬
ren können, laut vorgelesen und bis in's Kleinste besprochen. Der gemeine Mann
hier und in der nächsten Umgebung, ja tief in's Land hinein verschafft sich für
einen Kreuzer, sage für einen Kreuzer, die Kunde der Tagesereignisse durch ein
Blatt, welches täglich dreimal ausgegeben wird, am frühen Morgen, am Mittag
und am späten Abend und den Titel: „Neueste Nachrichten" führt. Wie unge¬
heuer die Verbreitung dieses Blattes ist, möge daraus erhellen, daß es trotz
seiner enormen und vielleicht in Deutschland beispiellosen Billigkeit, seinen Jnha-
haber, einem Buchdrucker aus Leipzig, täglich drei Louisdor reinen Gewinn ab¬
werfen soll. In diesem Blatte werden in populärer Weise alle Mängel des Hos-
Regiernngs-Behörden-Staats-Stadt-Gemeinde-, ja selbst Familienlebens kühn
und schonungslos angegriffen und beleuchtet, so daß dasselbe bereits eine förm¬
liche Zuchtruthe des gewöhnlichen Volkslebens geworden ist. Der Bursche droht
seinem Meister, der Soldat seinem Offizier, ja die Fran dem Manne, ihn in
die „neuesten Nachrichten" setzen zu lassen, wenn es Conflicte gegeben. Es gibt
Leute genug, die eine so scharfe Luft Mißbrauch, Prcßfrechheit nennen; allein sie
übersehen das Wohlthätige einer solchen Selbstcontrole des Volkes. — In un¬
serem „literarischen Verein," wie er sich sonderbar genug nennt, im Local des
Odcon, liegen Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften auf und hier findet
die ratio Politik aller Stände ihre Sättigung; die großen und die kleinen Eitel¬
keiten, die verbrauchten und die hoffnungsvollen Staatsmänner, die beschäftigten
und brodlosen Literaten, die Negiernngskampfhähne und die dünnleibigen Aspi¬
ranten, die feinfühligen Polizeispitzen und starkknochigen Demokraten, neugebackene
und verwitterte Offiziere sitzen hier friedlich »Itissimo silvntlo bunt durcheinander.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/531>, abgerufen am 28.09.2024.