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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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i.
Die Journalistik in Wien,
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Der Herbstwind rauscht und die Blätter fallen. Die Zeit der Prüfung kömmt
herbei für all die grünen, leider mir all zu grünen Blätter und Blättchen, welche
die Märzsonne dieses Jahres in Wien hervorgelockt hat. In den nächsten drei Mona-
ten wird sich das Schicksal der meisten entscheiden und das neue Jahr wird wohl kaum
ein halbes Dutzend derselben am Leben finden. Die warmen Sommertage, welche den
Verkauf auf der Straße begünstigten, von dem neun Zehntheile dieser journalistischen
Savoyarden sich ernährten, sind vorüber, die Neugier des seit fünfzig Jahren ausge¬
hungerten Publikums nach der neuen Frucht der in Oestreich unerhörten Preßfreiheit,
ist abgenutzt. In den ersten drei Monaten biß die Lesewut!) in jeden Apfel den man ihr
anbot, gleichviel ob er grün oder wurmstichig war; aber die Unreife der meisten hat
einen Ekel gegen sie hervorgebracht; das Publikum ist nicht mehr so naiv, es hat seine
Schule durchgemacht uno greift nicht mehr zu, wenn das schreiende Fratschlerweib auf
der Straße ihm ein bedrucktes Blatt unter die Nase hält mit dem monotonen Ruf:
"A Graizer dos menge Blatt! Um a Graizer dös menge Blatt was mer so eben be¬
kommen, sehr interessant!" --

Die junge Preßfreiheit mag wohl allenthalben in Deutschland eine große Zahl
unreifer Blätter zum Vorschein gebracht haben; nirgends jedoch in solcher wahnsinnigen
Masse wie in Wien. Grade weil hier die politische Bildung so sehr in den Kinderschu¬
hen sich befand, drängten sich einerseits die Leser mit Hast nach der neuen Speise, wäh¬
rend die Schreiber mit um so leichterem Gewissen die Feder hanthierten, je weniger sie
eine Idee, von der Größe der Aufgabe hatten. Die Meisten, die jetzt zum ersten Mal
über gewisse politische Fragen nachdachten, die im übrigen Deutschland längst discutirt
und beantwortet sind, glauben ganz ernstlich, diese Dinge erst entdeckt zu haben und
schwatzen mit einem Pathos, mit einer Arroganz und mit einer Unwissenheit darüber,
die komischer mis ekelhaft ist. Dennoch hat diese Presse der jungen, kaum aus dem El
hervorgekrochenen Picphcihne den Vorzug vor deu wenigen größeren und erfahrenem
Blättern -- daß sie ehrlich ist. Diese jungen Leute, vom "Studentencourier,"
vom "Grad ans," vom "Radikalen" :c glauben was sie schreiben -- sie sind unerfah¬
ren und überstürzt, aber sie find ohne Falsch, während die raffinirtem und ältern
Männer der "Wiener Zeitung" und der "östreichischen" Zeitung" perfid sind, ohne
durch Geschicklichkeit für ihre UnausrichtigMt zu entschädigen.


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Die Journalistik in Wien,
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Der Herbstwind rauscht und die Blätter fallen. Die Zeit der Prüfung kömmt
herbei für all die grünen, leider mir all zu grünen Blätter und Blättchen, welche
die Märzsonne dieses Jahres in Wien hervorgelockt hat. In den nächsten drei Mona-
ten wird sich das Schicksal der meisten entscheiden und das neue Jahr wird wohl kaum
ein halbes Dutzend derselben am Leben finden. Die warmen Sommertage, welche den
Verkauf auf der Straße begünstigten, von dem neun Zehntheile dieser journalistischen
Savoyarden sich ernährten, sind vorüber, die Neugier des seit fünfzig Jahren ausge¬
hungerten Publikums nach der neuen Frucht der in Oestreich unerhörten Preßfreiheit,
ist abgenutzt. In den ersten drei Monaten biß die Lesewut!) in jeden Apfel den man ihr
anbot, gleichviel ob er grün oder wurmstichig war; aber die Unreife der meisten hat
einen Ekel gegen sie hervorgebracht; das Publikum ist nicht mehr so naiv, es hat seine
Schule durchgemacht uno greift nicht mehr zu, wenn das schreiende Fratschlerweib auf
der Straße ihm ein bedrucktes Blatt unter die Nase hält mit dem monotonen Ruf:
„A Graizer dos menge Blatt! Um a Graizer dös menge Blatt was mer so eben be¬
kommen, sehr interessant!" —

Die junge Preßfreiheit mag wohl allenthalben in Deutschland eine große Zahl
unreifer Blätter zum Vorschein gebracht haben; nirgends jedoch in solcher wahnsinnigen
Masse wie in Wien. Grade weil hier die politische Bildung so sehr in den Kinderschu¬
hen sich befand, drängten sich einerseits die Leser mit Hast nach der neuen Speise, wäh¬
rend die Schreiber mit um so leichterem Gewissen die Feder hanthierten, je weniger sie
eine Idee, von der Größe der Aufgabe hatten. Die Meisten, die jetzt zum ersten Mal
über gewisse politische Fragen nachdachten, die im übrigen Deutschland längst discutirt
und beantwortet sind, glauben ganz ernstlich, diese Dinge erst entdeckt zu haben und
schwatzen mit einem Pathos, mit einer Arroganz und mit einer Unwissenheit darüber,
die komischer mis ekelhaft ist. Dennoch hat diese Presse der jungen, kaum aus dem El
hervorgekrochenen Picphcihne den Vorzug vor deu wenigen größeren und erfahrenem
Blättern — daß sie ehrlich ist. Diese jungen Leute, vom „Studentencourier,"
vom „Grad ans," vom „Radikalen" :c glauben was sie schreiben — sie sind unerfah¬
ren und überstürzt, aber sie find ohne Falsch, während die raffinirtem und ältern
Männer der „Wiener Zeitung" und der „östreichischen" Zeitung" perfid sind, ohne
durch Geschicklichkeit für ihre UnausrichtigMt zu entschädigen.


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[0495] T a g e b u eh. i. Die Journalistik in Wien, i. Der Herbstwind rauscht und die Blätter fallen. Die Zeit der Prüfung kömmt herbei für all die grünen, leider mir all zu grünen Blätter und Blättchen, welche die Märzsonne dieses Jahres in Wien hervorgelockt hat. In den nächsten drei Mona- ten wird sich das Schicksal der meisten entscheiden und das neue Jahr wird wohl kaum ein halbes Dutzend derselben am Leben finden. Die warmen Sommertage, welche den Verkauf auf der Straße begünstigten, von dem neun Zehntheile dieser journalistischen Savoyarden sich ernährten, sind vorüber, die Neugier des seit fünfzig Jahren ausge¬ hungerten Publikums nach der neuen Frucht der in Oestreich unerhörten Preßfreiheit, ist abgenutzt. In den ersten drei Monaten biß die Lesewut!) in jeden Apfel den man ihr anbot, gleichviel ob er grün oder wurmstichig war; aber die Unreife der meisten hat einen Ekel gegen sie hervorgebracht; das Publikum ist nicht mehr so naiv, es hat seine Schule durchgemacht uno greift nicht mehr zu, wenn das schreiende Fratschlerweib auf der Straße ihm ein bedrucktes Blatt unter die Nase hält mit dem monotonen Ruf: „A Graizer dos menge Blatt! Um a Graizer dös menge Blatt was mer so eben be¬ kommen, sehr interessant!" — Die junge Preßfreiheit mag wohl allenthalben in Deutschland eine große Zahl unreifer Blätter zum Vorschein gebracht haben; nirgends jedoch in solcher wahnsinnigen Masse wie in Wien. Grade weil hier die politische Bildung so sehr in den Kinderschu¬ hen sich befand, drängten sich einerseits die Leser mit Hast nach der neuen Speise, wäh¬ rend die Schreiber mit um so leichterem Gewissen die Feder hanthierten, je weniger sie eine Idee, von der Größe der Aufgabe hatten. Die Meisten, die jetzt zum ersten Mal über gewisse politische Fragen nachdachten, die im übrigen Deutschland längst discutirt und beantwortet sind, glauben ganz ernstlich, diese Dinge erst entdeckt zu haben und schwatzen mit einem Pathos, mit einer Arroganz und mit einer Unwissenheit darüber, die komischer mis ekelhaft ist. Dennoch hat diese Presse der jungen, kaum aus dem El hervorgekrochenen Picphcihne den Vorzug vor deu wenigen größeren und erfahrenem Blättern — daß sie ehrlich ist. Diese jungen Leute, vom „Studentencourier," vom „Grad ans," vom „Radikalen" :c glauben was sie schreiben — sie sind unerfah¬ ren und überstürzt, aber sie find ohne Falsch, während die raffinirtem und ältern Männer der „Wiener Zeitung" und der „östreichischen" Zeitung" perfid sind, ohne durch Geschicklichkeit für ihre UnausrichtigMt zu entschädigen. 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/495>, abgerufen am 29.06.2024.