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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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der Kleinseite herüberschwammen, Lebensmittel für's Militär gegeben und als die
Soldaten vom Volke aufgesucht wurden, sie versteckt und dann, als Fleischhauer-
knechte verkleidet, wieder auf's linke Ufer geschafft. Sie hatten sich seitdem keiner
der vielen Protestationen gegen Windischgrätz angeschlossen und im constitutionellen
Verein, welcher deutsch gesinnt ist, saßen vom Anfang an jüdische Mitglieder.

Der Judenhaß gibt sich seitdem nicht mehr dnrch offene Gewaltthätigkeiten,
aber dennoch deutlich genug zu erkennen. Ende August sollte ein neues Stadt¬
verordneten-Collegium gewählt werdeu. Sämmtliche Bürger wählen einen Aus¬
schuß von 149 Mitgliedern, aus diesen wird das Kollegium von 24 Verordneten
und von diesen ans ihrer Mitte der Bürgermeister gewählt. Da erschien eine
Verordnung des bestehenden Kollegiums an allen Straßenecken, wornach Verbre¬
cher, Blödsinnige und Juden von der Wahl ausgeschlossen sein sollten. Das
fünfte Viertel sendet die Herren !)>-. nu-,1. Gitschin und Jurist Wiener mit einer
Beschwerde darob an's Ministerium nach Wien. Jedenfalls hatten die Stadt¬
verordneten Kunde davon, denn des Morgens am Wahltage (dem 29.) erscheint
eine Verordnung, welche den Juden gestattet, l2 Wähler zu stellen. Eine Stunde
später kommt, in Folge einer telegraphischen Depesche des Ministeriums, ein Erlaß
des Gubernialpräsideuten Mescercy, der den jüdischen Bürgern ihr volles Recht
ungeschmälert läßt. Es war spät genug, wenn man den Wahlmodus bedenkt,
denn jeder Wähler hat die ganze Liste von 149 Ausschußmitgliedern auszufüllen,
dann den Zettel zu siegeln und aus der Außenseite seinen Namen anzugeben. Trotz
des Gubernialerlasses ließen sich Viele durch übertriebene Furcht von der Wahl
abhalten, auch wurden von den wenigen jüdischen Zetteln, die auf's Rathhaus
kamen, die meisten unter den Tisch geworfen. Nun, wenigstens im Prinzip hat
die Sache der Gleichberechtigung der Konfessionen gesiegt; der factische Sieg wird
hoffentlich mit der Zeit nachkommen.

Am Vorabend der Emancipation aber sind die Präger Israeliten von einer
unbändigen Auswanderuugslufi ergriffen worden. Dies ist insofern wichtig, als
sich voraussehen läßt, baß die Emigration, einmal in Schwung gekommen, sich
nicht auf diesen Sommer beschränken wird. Früher waren die Fälle vereinzelt,
jetzt sind wenigstens ein paar Dutzend Familien schon nach Amerika gezogen. Ein
Uebelstand ist, daß die Wohlhabenderen fortziehen und die Armen zurückbleiben,
doch haben die Juden angefangen, die Emigration zu organisiren. Nicht nur,
daß die Almosenbüchse fleißig umhergeht, um den Unbemittelten Reisekosten zu
schaffen, sondern es hat sich ein Auswanderungsvereiu gebildet, in welchen sich
Jeder durch einige Kreuzer wöchentlicher Steuer einkaufen kann. Den Winter
hindurch hat dieser Verein beschlossen, die jüngern Mitglieder in verschiedenen
Handwerken und nothdürftig im Englischen unterrichten zu lassen, so daß im
nächsten Frühling eine planmäßige, allmälige Uebersiedelung uach Nordamerika
beginnen kann.


der Kleinseite herüberschwammen, Lebensmittel für's Militär gegeben und als die
Soldaten vom Volke aufgesucht wurden, sie versteckt und dann, als Fleischhauer-
knechte verkleidet, wieder auf's linke Ufer geschafft. Sie hatten sich seitdem keiner
der vielen Protestationen gegen Windischgrätz angeschlossen und im constitutionellen
Verein, welcher deutsch gesinnt ist, saßen vom Anfang an jüdische Mitglieder.

Der Judenhaß gibt sich seitdem nicht mehr dnrch offene Gewaltthätigkeiten,
aber dennoch deutlich genug zu erkennen. Ende August sollte ein neues Stadt¬
verordneten-Collegium gewählt werdeu. Sämmtliche Bürger wählen einen Aus¬
schuß von 149 Mitgliedern, aus diesen wird das Kollegium von 24 Verordneten
und von diesen ans ihrer Mitte der Bürgermeister gewählt. Da erschien eine
Verordnung des bestehenden Kollegiums an allen Straßenecken, wornach Verbre¬
cher, Blödsinnige und Juden von der Wahl ausgeschlossen sein sollten. Das
fünfte Viertel sendet die Herren !)>-. nu-,1. Gitschin und Jurist Wiener mit einer
Beschwerde darob an's Ministerium nach Wien. Jedenfalls hatten die Stadt¬
verordneten Kunde davon, denn des Morgens am Wahltage (dem 29.) erscheint
eine Verordnung, welche den Juden gestattet, l2 Wähler zu stellen. Eine Stunde
später kommt, in Folge einer telegraphischen Depesche des Ministeriums, ein Erlaß
des Gubernialpräsideuten Mescercy, der den jüdischen Bürgern ihr volles Recht
ungeschmälert läßt. Es war spät genug, wenn man den Wahlmodus bedenkt,
denn jeder Wähler hat die ganze Liste von 149 Ausschußmitgliedern auszufüllen,
dann den Zettel zu siegeln und aus der Außenseite seinen Namen anzugeben. Trotz
des Gubernialerlasses ließen sich Viele durch übertriebene Furcht von der Wahl
abhalten, auch wurden von den wenigen jüdischen Zetteln, die auf's Rathhaus
kamen, die meisten unter den Tisch geworfen. Nun, wenigstens im Prinzip hat
die Sache der Gleichberechtigung der Konfessionen gesiegt; der factische Sieg wird
hoffentlich mit der Zeit nachkommen.

Am Vorabend der Emancipation aber sind die Präger Israeliten von einer
unbändigen Auswanderuugslufi ergriffen worden. Dies ist insofern wichtig, als
sich voraussehen läßt, baß die Emigration, einmal in Schwung gekommen, sich
nicht auf diesen Sommer beschränken wird. Früher waren die Fälle vereinzelt,
jetzt sind wenigstens ein paar Dutzend Familien schon nach Amerika gezogen. Ein
Uebelstand ist, daß die Wohlhabenderen fortziehen und die Armen zurückbleiben,
doch haben die Juden angefangen, die Emigration zu organisiren. Nicht nur,
daß die Almosenbüchse fleißig umhergeht, um den Unbemittelten Reisekosten zu
schaffen, sondern es hat sich ein Auswanderungsvereiu gebildet, in welchen sich
Jeder durch einige Kreuzer wöchentlicher Steuer einkaufen kann. Den Winter
hindurch hat dieser Verein beschlossen, die jüngern Mitglieder in verschiedenen
Handwerken und nothdürftig im Englischen unterrichten zu lassen, so daß im
nächsten Frühling eine planmäßige, allmälige Uebersiedelung uach Nordamerika
beginnen kann.


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[0436] der Kleinseite herüberschwammen, Lebensmittel für's Militär gegeben und als die Soldaten vom Volke aufgesucht wurden, sie versteckt und dann, als Fleischhauer- knechte verkleidet, wieder auf's linke Ufer geschafft. Sie hatten sich seitdem keiner der vielen Protestationen gegen Windischgrätz angeschlossen und im constitutionellen Verein, welcher deutsch gesinnt ist, saßen vom Anfang an jüdische Mitglieder. Der Judenhaß gibt sich seitdem nicht mehr dnrch offene Gewaltthätigkeiten, aber dennoch deutlich genug zu erkennen. Ende August sollte ein neues Stadt¬ verordneten-Collegium gewählt werdeu. Sämmtliche Bürger wählen einen Aus¬ schuß von 149 Mitgliedern, aus diesen wird das Kollegium von 24 Verordneten und von diesen ans ihrer Mitte der Bürgermeister gewählt. Da erschien eine Verordnung des bestehenden Kollegiums an allen Straßenecken, wornach Verbre¬ cher, Blödsinnige und Juden von der Wahl ausgeschlossen sein sollten. Das fünfte Viertel sendet die Herren !)>-. nu-,1. Gitschin und Jurist Wiener mit einer Beschwerde darob an's Ministerium nach Wien. Jedenfalls hatten die Stadt¬ verordneten Kunde davon, denn des Morgens am Wahltage (dem 29.) erscheint eine Verordnung, welche den Juden gestattet, l2 Wähler zu stellen. Eine Stunde später kommt, in Folge einer telegraphischen Depesche des Ministeriums, ein Erlaß des Gubernialpräsideuten Mescercy, der den jüdischen Bürgern ihr volles Recht ungeschmälert läßt. Es war spät genug, wenn man den Wahlmodus bedenkt, denn jeder Wähler hat die ganze Liste von 149 Ausschußmitgliedern auszufüllen, dann den Zettel zu siegeln und aus der Außenseite seinen Namen anzugeben. Trotz des Gubernialerlasses ließen sich Viele durch übertriebene Furcht von der Wahl abhalten, auch wurden von den wenigen jüdischen Zetteln, die auf's Rathhaus kamen, die meisten unter den Tisch geworfen. Nun, wenigstens im Prinzip hat die Sache der Gleichberechtigung der Konfessionen gesiegt; der factische Sieg wird hoffentlich mit der Zeit nachkommen. Am Vorabend der Emancipation aber sind die Präger Israeliten von einer unbändigen Auswanderuugslufi ergriffen worden. Dies ist insofern wichtig, als sich voraussehen läßt, baß die Emigration, einmal in Schwung gekommen, sich nicht auf diesen Sommer beschränken wird. Früher waren die Fälle vereinzelt, jetzt sind wenigstens ein paar Dutzend Familien schon nach Amerika gezogen. Ein Uebelstand ist, daß die Wohlhabenderen fortziehen und die Armen zurückbleiben, doch haben die Juden angefangen, die Emigration zu organisiren. Nicht nur, daß die Almosenbüchse fleißig umhergeht, um den Unbemittelten Reisekosten zu schaffen, sondern es hat sich ein Auswanderungsvereiu gebildet, in welchen sich Jeder durch einige Kreuzer wöchentlicher Steuer einkaufen kann. Den Winter hindurch hat dieser Verein beschlossen, die jüngern Mitglieder in verschiedenen Handwerken und nothdürftig im Englischen unterrichten zu lassen, so daß im nächsten Frühling eine planmäßige, allmälige Uebersiedelung uach Nordamerika beginnen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/436>, abgerufen am 29.06.2024.