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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Prinzipien, sondern Rücksichten der Couvencmce und der Zweckmäßigkeit. Mir
fällt nicht ein, darüber zu moralisiren; es gab vielleicht keinen andern Weg aus
der Jmpasse, in welche Frankreich gerathen war, -- und die Republik selbst
konnte man am Ende nicht vor Gericht stellen. Zweckmäßig war jedenfalls der
Ausgang, welchen die denkwürdige Sitzung der Assemblee N. vom 25 -- 26. Au¬
gust -- vom Freitag Mittags bis Sonnabends früh um 6 Uhr -- genommen hat.

Die Versammlung beschloß über die politische Untersuchung zur Tagesordnung
überzugehen; Unschuldiger und Angeschuldigte hatten einander einfach Lüge, Ver-
leumdung ze. in die Zähne geworfen und das Urtheil über Echtheit und Bedeu¬
tung der gemachten Enthüllungen blieb der "öffentlichen Meinung" anheimgegeben,
die den ganzen Handel bald vergessen haben wird, da sie schon jetzt sich mit
neuern Neuigkeiten beschäftigt. Allein es hatte auch eine gerichtliche Untersuchung
stattgefunden und das Prinzip der Egalitv konnte man nicht ganz mit Füßen
treten; es mußten wenigstens zwei der vornehmern Feinde der Ordnung getroffen
werden, da man doch die gemeinern zu Hunderten in das heiße Sibirien zwischen
der Sahara und dem Tell schickt. Also werden L. Blanc und Causstdivre, deren
Ansehn im Parlament am meisten untergraben ist, angeklagt und die Versammlung
gestattet, mit großer Majorität, ihre Verhaftung. Allein sie haben Anhang im
Volke und kamen sie vor die Geschwornen, so zeigte sich die Halbheit der Ma߬
regel, es wurden noch andere Notabilitäten in den Prozeß verwickelt, also läßt
man ihnen Zeit zur Flucht. L. Blanc begibt sich Sonnabends gemächlich ans die
Nordbahn, wird wegen Mangel an Legitimation in Gent angehalten, von den
Honoratioren mit Besuchen beehrt, dann in Ostende angegafft, bewundert und be-
adrcßt und gelaugt unter diesen zweideutigen Ovationen nach England. Caussi-
divre wird man ebenfalls nicht erwischen, selbst wenn es wahr ist, daß er sich in
Paris verborgen hält. Dies Alles ist für den Moment sehr zweckmäßig. Kein
Prozeß, kein Skandal und doch eine Art Genugthuung, denn die Flucht verurtheilt
die Angeklagten oder macht sie auf einige Zeit unschädlich.'

Interessant waren die Vertheidigungsversuche L. Blancö und Caussidivre's
auf der Tribune am Abend des 25. Jener verflocht in sein Plaidoyer einen Kur¬
sus über sociale Philosophie, dieser erschmeichelte sich das Mitleid der Versamm¬
lung durch seine nicht ganz unbewußte Drolligkeit. Welch ein Gegensatz -- die
kleine, schwächliche Gestalt des verschrobenen Theoretikers Blanc zu sehen, und
den urwüchsigen massiven Sohn der Barrikaden mit seinem Gemisch von Bonhom-
mie und Durchtriebenheit. Das ist ein echtes Kind der bono <lo Paris, die be¬
kanntlich ein ätzender, geistreicher D--et ist; ein revolutionärer Praktiker, der den
Communismus nicht erst aus Büchern zu lernen braucht und den kleinen Tendenz-
Historiker auch in anderer, als physischer Beziehung in die Tasche steckt. Caussi-
diere las zu seiner Vertheidigung ein Manuscript ab, das er selbst verfaßt hatte,
denn es war der crasseste Hochverrath gegen die französische Grammatik und den


Prinzipien, sondern Rücksichten der Couvencmce und der Zweckmäßigkeit. Mir
fällt nicht ein, darüber zu moralisiren; es gab vielleicht keinen andern Weg aus
der Jmpasse, in welche Frankreich gerathen war, — und die Republik selbst
konnte man am Ende nicht vor Gericht stellen. Zweckmäßig war jedenfalls der
Ausgang, welchen die denkwürdige Sitzung der Assemblee N. vom 25 — 26. Au¬
gust — vom Freitag Mittags bis Sonnabends früh um 6 Uhr — genommen hat.

Die Versammlung beschloß über die politische Untersuchung zur Tagesordnung
überzugehen; Unschuldiger und Angeschuldigte hatten einander einfach Lüge, Ver-
leumdung ze. in die Zähne geworfen und das Urtheil über Echtheit und Bedeu¬
tung der gemachten Enthüllungen blieb der „öffentlichen Meinung" anheimgegeben,
die den ganzen Handel bald vergessen haben wird, da sie schon jetzt sich mit
neuern Neuigkeiten beschäftigt. Allein es hatte auch eine gerichtliche Untersuchung
stattgefunden und das Prinzip der Egalitv konnte man nicht ganz mit Füßen
treten; es mußten wenigstens zwei der vornehmern Feinde der Ordnung getroffen
werden, da man doch die gemeinern zu Hunderten in das heiße Sibirien zwischen
der Sahara und dem Tell schickt. Also werden L. Blanc und Causstdivre, deren
Ansehn im Parlament am meisten untergraben ist, angeklagt und die Versammlung
gestattet, mit großer Majorität, ihre Verhaftung. Allein sie haben Anhang im
Volke und kamen sie vor die Geschwornen, so zeigte sich die Halbheit der Ma߬
regel, es wurden noch andere Notabilitäten in den Prozeß verwickelt, also läßt
man ihnen Zeit zur Flucht. L. Blanc begibt sich Sonnabends gemächlich ans die
Nordbahn, wird wegen Mangel an Legitimation in Gent angehalten, von den
Honoratioren mit Besuchen beehrt, dann in Ostende angegafft, bewundert und be-
adrcßt und gelaugt unter diesen zweideutigen Ovationen nach England. Caussi-
divre wird man ebenfalls nicht erwischen, selbst wenn es wahr ist, daß er sich in
Paris verborgen hält. Dies Alles ist für den Moment sehr zweckmäßig. Kein
Prozeß, kein Skandal und doch eine Art Genugthuung, denn die Flucht verurtheilt
die Angeklagten oder macht sie auf einige Zeit unschädlich.'

Interessant waren die Vertheidigungsversuche L. Blancö und Caussidivre's
auf der Tribune am Abend des 25. Jener verflocht in sein Plaidoyer einen Kur¬
sus über sociale Philosophie, dieser erschmeichelte sich das Mitleid der Versamm¬
lung durch seine nicht ganz unbewußte Drolligkeit. Welch ein Gegensatz — die
kleine, schwächliche Gestalt des verschrobenen Theoretikers Blanc zu sehen, und
den urwüchsigen massiven Sohn der Barrikaden mit seinem Gemisch von Bonhom-
mie und Durchtriebenheit. Das ist ein echtes Kind der bono <lo Paris, die be¬
kanntlich ein ätzender, geistreicher D—et ist; ein revolutionärer Praktiker, der den
Communismus nicht erst aus Büchern zu lernen braucht und den kleinen Tendenz-
Historiker auch in anderer, als physischer Beziehung in die Tasche steckt. Caussi-
diere las zu seiner Vertheidigung ein Manuscript ab, das er selbst verfaßt hatte,
denn es war der crasseste Hochverrath gegen die französische Grammatik und den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/403>, abgerufen am 28.09.2024.