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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Verwüstungen ist, welche sie angerichtet, als durch das grauenhafte Licht, das sie
bis über den 15. Mai zurückgeworfen hat auf die dunkle Genesis der Republik und
auf die krummen Wege, welche die Hauptführer des Volkes bisher gewandelt sind.
Solche Entdeckungen lassen sich durch keine Amnestie in Vergessenheit bringen; und
da die Helden der Anarchie Nichts mehr zu verlieren haben, muthet der Argwohn
der Gesellschaft ihnen natürlich die tollsten Wagestücke zu. Daher die Prophezei-
hungen neuer Blutsccnen und die ungeheuern Rüstungen der Regierung. Nehmen
Sie die Pariser Gerüchte nicht buchstäblich. Hier weiß man, was' von der Dro¬
hung mit Henry V. und dem Lilienbauner zu halten ist. Es ist ein alter Kniff
hiesiger Verschwörer, durch falsche Gerüchte die öffentliche Meinung irre zu machen.
Selbst während der Junitage sprach man von bonopartistischen Prätendenten, gau¬
kelte man hie und da mit dem weißen Banner, um theils Fäuste zu werben, theils
den Kampf wie eine Vereinigung aller Parteien gegen die bestehende Tyrannei
darzustellen, aber hinter dem weißen Banner war die rothe Fahne versteckt und
ward überall, wo den Barrikaden der Sieg zu lächeln schien, frei und trotzig
entfaltet. Auch glaubt Niemand, außerhalb des Faubourg Se. Germain, daß die
Ouvriers ernsthaft für die Enkel Ludwig' des Heiligen zu schwärmen im Staude
sind. Noch weniger thun dies die Mitglieder der geheimen Gesellschaften, an deren
Reorganisation eifrig gearbeitet wird.

Genug, der Belagerungszustand zeigt sich bis jetzt als die einzig mögliche Re-
gierungsform in der Februarrepublik. Vou der politische" Thätigkeit der Natio¬
nalvertreter ist für das Wohl der Gesellschaft und die Besänftigung der Factionen
wenig oder Nichts zu hoffen; die wesentlichsten Fortschritte wären der fieberhaften
Ungeduld des Proletariats ohnehin verächtliche Bagatellen, und die Leidenschaften
werfen der Assemblee Nationale genug Steine des Anstoßes in den Weg, daß von
ihrer eigentlichen Aufgabe, der Berathung deö Verfassungsentwurfs, die Anfangs
August beginnen sollte, keine Rede sein kann. Finanzielle Nothbehelfe, in deren
Prinzip das Ministerium (Goudchanx) fortwährend zwischen der Rechten und Lin¬
ken schwankt oder Maßregeln, die den Kindern der Revolution unerheblich dün¬
ken, wie die Postrefvrm"), unfruchtbare Debatten über die auswärtige Politik,
vou deren Friedlichkeit der Berg empört ist, sind die einzigen Früchte ihrer Wirk¬
samkeit. Mau bemerkt bei den meisten Abgeordneten, wie beim Publikum, eine
traurige Abspannung, so oft es sich um praktische Fragen, und eine furchtbare
Nervenreizbarkeit, wenn es sich um Persönlichkeiten und Intriguen handelt. So
geht denn die ganze innere Politik in der militärischen Polizei auf und der Staat
ruht vollständig auf den Schultern des Generals Cavaignac. Er vertritt Frank-



") Einfache Briefe werden von einem Ende Frankreichs zum andern 20 Centimes Porto
kosten, eben so Briefe von oder nach Algier und Corsika. Das Gesetz tritt am 1. Januar Ists
in Wirksamkeit.

Verwüstungen ist, welche sie angerichtet, als durch das grauenhafte Licht, das sie
bis über den 15. Mai zurückgeworfen hat auf die dunkle Genesis der Republik und
auf die krummen Wege, welche die Hauptführer des Volkes bisher gewandelt sind.
Solche Entdeckungen lassen sich durch keine Amnestie in Vergessenheit bringen; und
da die Helden der Anarchie Nichts mehr zu verlieren haben, muthet der Argwohn
der Gesellschaft ihnen natürlich die tollsten Wagestücke zu. Daher die Prophezei-
hungen neuer Blutsccnen und die ungeheuern Rüstungen der Regierung. Nehmen
Sie die Pariser Gerüchte nicht buchstäblich. Hier weiß man, was' von der Dro¬
hung mit Henry V. und dem Lilienbauner zu halten ist. Es ist ein alter Kniff
hiesiger Verschwörer, durch falsche Gerüchte die öffentliche Meinung irre zu machen.
Selbst während der Junitage sprach man von bonopartistischen Prätendenten, gau¬
kelte man hie und da mit dem weißen Banner, um theils Fäuste zu werben, theils
den Kampf wie eine Vereinigung aller Parteien gegen die bestehende Tyrannei
darzustellen, aber hinter dem weißen Banner war die rothe Fahne versteckt und
ward überall, wo den Barrikaden der Sieg zu lächeln schien, frei und trotzig
entfaltet. Auch glaubt Niemand, außerhalb des Faubourg Se. Germain, daß die
Ouvriers ernsthaft für die Enkel Ludwig' des Heiligen zu schwärmen im Staude
sind. Noch weniger thun dies die Mitglieder der geheimen Gesellschaften, an deren
Reorganisation eifrig gearbeitet wird.

Genug, der Belagerungszustand zeigt sich bis jetzt als die einzig mögliche Re-
gierungsform in der Februarrepublik. Vou der politische» Thätigkeit der Natio¬
nalvertreter ist für das Wohl der Gesellschaft und die Besänftigung der Factionen
wenig oder Nichts zu hoffen; die wesentlichsten Fortschritte wären der fieberhaften
Ungeduld des Proletariats ohnehin verächtliche Bagatellen, und die Leidenschaften
werfen der Assemblee Nationale genug Steine des Anstoßes in den Weg, daß von
ihrer eigentlichen Aufgabe, der Berathung deö Verfassungsentwurfs, die Anfangs
August beginnen sollte, keine Rede sein kann. Finanzielle Nothbehelfe, in deren
Prinzip das Ministerium (Goudchanx) fortwährend zwischen der Rechten und Lin¬
ken schwankt oder Maßregeln, die den Kindern der Revolution unerheblich dün¬
ken, wie die Postrefvrm"), unfruchtbare Debatten über die auswärtige Politik,
vou deren Friedlichkeit der Berg empört ist, sind die einzigen Früchte ihrer Wirk¬
samkeit. Mau bemerkt bei den meisten Abgeordneten, wie beim Publikum, eine
traurige Abspannung, so oft es sich um praktische Fragen, und eine furchtbare
Nervenreizbarkeit, wenn es sich um Persönlichkeiten und Intriguen handelt. So
geht denn die ganze innere Politik in der militärischen Polizei auf und der Staat
ruht vollständig auf den Schultern des Generals Cavaignac. Er vertritt Frank-



») Einfache Briefe werden von einem Ende Frankreichs zum andern 20 Centimes Porto
kosten, eben so Briefe von oder nach Algier und Corsika. Das Gesetz tritt am 1. Januar Ists
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/398>, abgerufen am 29.06.2024.