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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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5) Ernste Geschichten. Vom Verfasser der "Polengräber." Leipzig. Thomas.
Greuel aus dem Czarenreiche, nebst den traurigen Folgen, die eine solche Wirth¬
schaft für das Gewissen und das Gemüth billiger Weise haben muß. Darstellung etwas
jugendlich.

K) Victor. Von Titus Ullrich. 2. Auflage. Berlin, v. Schröter.

Ein Produkt jener krankhaften Zeit, die wir glücklicher Weife hinter uns haben
und als solches von Interesse. Die damalige Poesie zehrte theils von den Wünschen,
denen sie Gestalt zu geben suchte, theils von der Verkehrtheit der Zustände, die sie
darum nicht objectiv machen konnte, weil sie selber zu sehr darin befangen war, um
Humor zu haben. So blieb denn ein ewiges Drängen, Sehnen, man wußte nicht
recht wohin, ein Unbehagen, das eben so miserabel war, als die Zustände, denen es
entsprang, knabenhaftes Uebersprudeln, mit altkluger suffisance auf eine höchst unangenehme
Weise gepaart; scheinbare Excentricität des Gefühls, die sich namentlich in der Roheit
der Formen geltend machte und hinter den Floskeln geistige Armuth, höchst prosaische
Denkweise, eine Unreife, welche die Poesie bei allen gebildeten Leuten in Verruf brachte,
wo man nicht durch eine glänzende Form geblendet wurde. Emancipirte Frauen haben
an dergleichen Geschmack gefunden. Dieses Gedicht, unbeschreiblich indem und inhalt¬
los, gibt anch darin von dem Blödsinn der überwundenen, ebenfalls ledernen und in¬
haltlosen Zeit ein gutes Bild, daß es von der Polizei verboten und verfolgt worden
ist. Der Held des Gedichts ist der Iwan" iuenmnris, der Prophet der neuen Zeit,
der von der Gegenwart nicht begriffen wird; wie ein Karl Moor in Tertia vor den
reactionären Pädagogen keine Gnade findet. Er sagt:


Es warne immerhin Bedächtigkeit
Und spöttle, wenn mir'S nicht beliebt zu hören,
Und laure schadenfrohen Blicks dem Ausgang!
Ich weiß: ich steh allein, es tritt
Kein Heer in meine Spur, mein Odem schwillt
Nicht zum Commando-Donner, -- ich, ein Einz'ger!
Und doch ist mächtiger Erfolg wie oft
Ein rief'ger Minenaufsprung, den ein Fünkchen
Vom unterird'schen Schlummerbett erweckt
Zur Auferstehung, die in starken Armen
Urplötzlich Thurm und Mauer, Mann und Roß
Und all' des gist'gen Hasses Pestilenz
In weitem Griff empor zum Himmel führt.
Es sei! ich wäg's!
Hin geh' ich, hin zum Volke! Reden will ich
Vor Allen frei! Ins Ohr des Marktes singen
Ein Lied von andrem Text und andrer Weise,
Als euch gespielt die hohen Musikanten,
Die unterthänigsten Gehorsams-Geiger,
Die falschen Staats- und Völkerglücks-Posauner!
Ein andres Lied, ihr Herren Orpheusjünger,
Die ihr die wilden Bestien all' besänftigt
Mit Kliu^ und Klang, bis auf die Eine nur,
Die wildeste von allen just, - den Hunger!
So daß, wenn diese knurrt, kein Rath euch bleibt
Als ihr aus eurer Leyer straffen Saiten,
Den gnädige" Erlösungsstrick zu drehn! --

Ferner:


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5) Ernste Geschichten. Vom Verfasser der „Polengräber." Leipzig. Thomas.
Greuel aus dem Czarenreiche, nebst den traurigen Folgen, die eine solche Wirth¬
schaft für das Gewissen und das Gemüth billiger Weise haben muß. Darstellung etwas
jugendlich.

K) Victor. Von Titus Ullrich. 2. Auflage. Berlin, v. Schröter.

Ein Produkt jener krankhaften Zeit, die wir glücklicher Weife hinter uns haben
und als solches von Interesse. Die damalige Poesie zehrte theils von den Wünschen,
denen sie Gestalt zu geben suchte, theils von der Verkehrtheit der Zustände, die sie
darum nicht objectiv machen konnte, weil sie selber zu sehr darin befangen war, um
Humor zu haben. So blieb denn ein ewiges Drängen, Sehnen, man wußte nicht
recht wohin, ein Unbehagen, das eben so miserabel war, als die Zustände, denen es
entsprang, knabenhaftes Uebersprudeln, mit altkluger suffisance auf eine höchst unangenehme
Weise gepaart; scheinbare Excentricität des Gefühls, die sich namentlich in der Roheit
der Formen geltend machte und hinter den Floskeln geistige Armuth, höchst prosaische
Denkweise, eine Unreife, welche die Poesie bei allen gebildeten Leuten in Verruf brachte,
wo man nicht durch eine glänzende Form geblendet wurde. Emancipirte Frauen haben
an dergleichen Geschmack gefunden. Dieses Gedicht, unbeschreiblich indem und inhalt¬
los, gibt anch darin von dem Blödsinn der überwundenen, ebenfalls ledernen und in¬
haltlosen Zeit ein gutes Bild, daß es von der Polizei verboten und verfolgt worden
ist. Der Held des Gedichts ist der Iwan« iuenmnris, der Prophet der neuen Zeit,
der von der Gegenwart nicht begriffen wird; wie ein Karl Moor in Tertia vor den
reactionären Pädagogen keine Gnade findet. Er sagt:


Es warne immerhin Bedächtigkeit
Und spöttle, wenn mir'S nicht beliebt zu hören,
Und laure schadenfrohen Blicks dem Ausgang!
Ich weiß: ich steh allein, es tritt
Kein Heer in meine Spur, mein Odem schwillt
Nicht zum Commando-Donner, — ich, ein Einz'ger!
Und doch ist mächtiger Erfolg wie oft
Ein rief'ger Minenaufsprung, den ein Fünkchen
Vom unterird'schen Schlummerbett erweckt
Zur Auferstehung, die in starken Armen
Urplötzlich Thurm und Mauer, Mann und Roß
Und all' des gist'gen Hasses Pestilenz
In weitem Griff empor zum Himmel führt.
Es sei! ich wäg's!
Hin geh' ich, hin zum Volke! Reden will ich
Vor Allen frei! Ins Ohr des Marktes singen
Ein Lied von andrem Text und andrer Weise,
Als euch gespielt die hohen Musikanten,
Die unterthänigsten Gehorsams-Geiger,
Die falschen Staats- und Völkerglücks-Posauner!
Ein andres Lied, ihr Herren Orpheusjünger,
Die ihr die wilden Bestien all' besänftigt
Mit Kliu^ und Klang, bis auf die Eine nur,
Die wildeste von allen just, - den Hunger!
So daß, wenn diese knurrt, kein Rath euch bleibt
Als ihr aus eurer Leyer straffen Saiten,
Den gnädige» Erlösungsstrick zu drehn! —

Ferner:


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[0343] 5) Ernste Geschichten. Vom Verfasser der „Polengräber." Leipzig. Thomas. Greuel aus dem Czarenreiche, nebst den traurigen Folgen, die eine solche Wirth¬ schaft für das Gewissen und das Gemüth billiger Weise haben muß. Darstellung etwas jugendlich. K) Victor. Von Titus Ullrich. 2. Auflage. Berlin, v. Schröter. Ein Produkt jener krankhaften Zeit, die wir glücklicher Weife hinter uns haben und als solches von Interesse. Die damalige Poesie zehrte theils von den Wünschen, denen sie Gestalt zu geben suchte, theils von der Verkehrtheit der Zustände, die sie darum nicht objectiv machen konnte, weil sie selber zu sehr darin befangen war, um Humor zu haben. So blieb denn ein ewiges Drängen, Sehnen, man wußte nicht recht wohin, ein Unbehagen, das eben so miserabel war, als die Zustände, denen es entsprang, knabenhaftes Uebersprudeln, mit altkluger suffisance auf eine höchst unangenehme Weise gepaart; scheinbare Excentricität des Gefühls, die sich namentlich in der Roheit der Formen geltend machte und hinter den Floskeln geistige Armuth, höchst prosaische Denkweise, eine Unreife, welche die Poesie bei allen gebildeten Leuten in Verruf brachte, wo man nicht durch eine glänzende Form geblendet wurde. Emancipirte Frauen haben an dergleichen Geschmack gefunden. Dieses Gedicht, unbeschreiblich indem und inhalt¬ los, gibt anch darin von dem Blödsinn der überwundenen, ebenfalls ledernen und in¬ haltlosen Zeit ein gutes Bild, daß es von der Polizei verboten und verfolgt worden ist. Der Held des Gedichts ist der Iwan« iuenmnris, der Prophet der neuen Zeit, der von der Gegenwart nicht begriffen wird; wie ein Karl Moor in Tertia vor den reactionären Pädagogen keine Gnade findet. Er sagt: Es warne immerhin Bedächtigkeit Und spöttle, wenn mir'S nicht beliebt zu hören, Und laure schadenfrohen Blicks dem Ausgang! Ich weiß: ich steh allein, es tritt Kein Heer in meine Spur, mein Odem schwillt Nicht zum Commando-Donner, — ich, ein Einz'ger! Und doch ist mächtiger Erfolg wie oft Ein rief'ger Minenaufsprung, den ein Fünkchen Vom unterird'schen Schlummerbett erweckt Zur Auferstehung, die in starken Armen Urplötzlich Thurm und Mauer, Mann und Roß Und all' des gist'gen Hasses Pestilenz In weitem Griff empor zum Himmel führt. Es sei! ich wäg's! Hin geh' ich, hin zum Volke! Reden will ich Vor Allen frei! Ins Ohr des Marktes singen Ein Lied von andrem Text und andrer Weise, Als euch gespielt die hohen Musikanten, Die unterthänigsten Gehorsams-Geiger, Die falschen Staats- und Völkerglücks-Posauner! Ein andres Lied, ihr Herren Orpheusjünger, Die ihr die wilden Bestien all' besänftigt Mit Kliu^ und Klang, bis auf die Eine nur, Die wildeste von allen just, - den Hunger! So daß, wenn diese knurrt, kein Rath euch bleibt Als ihr aus eurer Leyer straffen Saiten, Den gnädige» Erlösungsstrick zu drehn! — Ferner: 43*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/343>, abgerufen am 26.06.2024.