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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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stisch sich dem Gemeinwohl entgegensetzen, denn das wahre Interesse seiner Ge¬
meinde wird mit dem wahren Interesse des Ganzen Hand in Hand gehen. Jene
Fiction dagegen, der Deputirte sei nicht Deputirter seiner Committenten, --
was bei der Begrenzung der Deputationen nach der abstracten Kopfzahl ohne
organische Gliederung, wie wir sie den Amerikanern abgelernt haben, freilich
seine Schwierigkeiten hat, -- sondern der Deputirte der gestimmten Nation, ist
schädlich, weil es, eben als Fiction, die Sachlage verwirrt. Ob mein Reprä¬
sentant meine Interessen wahrnehmen wird, darüber kann ich mir ein Urtheil
bilden, ob er aber die Gesinnung und die Kenntnisse hat, in den allgemeinen
Staatsangelegenheiten ein vernünftiges und gewissenhaftes Votum abzugeben, dar¬
über habe ich kein Urtheil, wenn ich über jene Angelegenheiten selber keine Kennt¬
nisse habe. Das Volk wählt, wer ihm imponirt durch hübsche Figur, Redegabe,
Reichthum u. tgi., aber der wahre, vernünftige Wille der Gesellschaft wird durch
eine solche Repräsentation nicht ermittelt.

Das widerlichste Bild einer unorganischen Conglomeration bietet der gegen¬
wärtige östreichische Reichstag. In Berlin verstehen doch die meisten Deputirten
deutsch, wenn anch schlecht, aber in Wien müßte jede Rede erst in ein Paar Spra¬
chen verdollmetscht werden, ehe der Reichstag weiß, wovon die Rede ist. Um so
unparteiischer wird freilich die Abstimmung ausfallen, wenn man durch die schönen
Worte der ehrenwerthen Deputirten sich nicht bestechen läßt.

Von der Schwierigkeit, die Einheit des "Volks" äußerlich zu umgrenzen, habe
ich noch gar nicht gesprochen. In Deutschland sieht sie fast unübersteiglich aus.
Eine natürliche Staatseinheit ist nicht vorhanden, eine Einheit der Nationalität eben
so wenig. So kommt es eben auf die Reichseinheit heraus, die sich historisch an
die Person des römischen Kaisers knüpfte, und die nun plötzlich in eine republika¬
nische Einheit, eine Einheit des Gemeinwesens, verwandelt werden soll.

Man erlaube mir eine Zwischenbemerkung. Ich will hier über die Zweckmä¬
ßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des modernen Repräsentativst)steins, des constitutio>
retten oder republikanischen Ceutralstaats kein Urtheil fällen: ich kämpfe nur gegen
die Theorie, auf die man ihn gründen will. Diese Theorie ist eine Lüge. Ob
es in anderer Beziehung zweckmäßig ist, sämmtlichen Staatsangehörigen diesen
Schein der Betheiligung an Staatsangelegenheiten zu geben, denn mehr ist es
nicht, so lange sie von jenen Angelegenheiten nichts verstehen, das bleibt dahin¬
gestellt. Wenn man aber behauptet, daß durch solche Urwahleu in den Central-
staaten für jede einzelne Frage von politischer und staatsökonomischer Wichtigkeit
der wahre Wille des Volks und eine gesunde, vernünftige Entscheidung vermittelt
werde, so ist das wenigstens formell eine Illusion, wenn es sich anch zufällig so
herausstellte, wie ja ebeu so zufällig auch der aufgeklärte Despotismus das wahre
Interesse des Volks und selbst seine wahre Meinung vertreten kann. Worin eigent¬
lich der Werth des constitutionellen Systems liegt, davon ein andermal. Hier nur


stisch sich dem Gemeinwohl entgegensetzen, denn das wahre Interesse seiner Ge¬
meinde wird mit dem wahren Interesse des Ganzen Hand in Hand gehen. Jene
Fiction dagegen, der Deputirte sei nicht Deputirter seiner Committenten, —
was bei der Begrenzung der Deputationen nach der abstracten Kopfzahl ohne
organische Gliederung, wie wir sie den Amerikanern abgelernt haben, freilich
seine Schwierigkeiten hat, — sondern der Deputirte der gestimmten Nation, ist
schädlich, weil es, eben als Fiction, die Sachlage verwirrt. Ob mein Reprä¬
sentant meine Interessen wahrnehmen wird, darüber kann ich mir ein Urtheil
bilden, ob er aber die Gesinnung und die Kenntnisse hat, in den allgemeinen
Staatsangelegenheiten ein vernünftiges und gewissenhaftes Votum abzugeben, dar¬
über habe ich kein Urtheil, wenn ich über jene Angelegenheiten selber keine Kennt¬
nisse habe. Das Volk wählt, wer ihm imponirt durch hübsche Figur, Redegabe,
Reichthum u. tgi., aber der wahre, vernünftige Wille der Gesellschaft wird durch
eine solche Repräsentation nicht ermittelt.

Das widerlichste Bild einer unorganischen Conglomeration bietet der gegen¬
wärtige östreichische Reichstag. In Berlin verstehen doch die meisten Deputirten
deutsch, wenn anch schlecht, aber in Wien müßte jede Rede erst in ein Paar Spra¬
chen verdollmetscht werden, ehe der Reichstag weiß, wovon die Rede ist. Um so
unparteiischer wird freilich die Abstimmung ausfallen, wenn man durch die schönen
Worte der ehrenwerthen Deputirten sich nicht bestechen läßt.

Von der Schwierigkeit, die Einheit des „Volks" äußerlich zu umgrenzen, habe
ich noch gar nicht gesprochen. In Deutschland sieht sie fast unübersteiglich aus.
Eine natürliche Staatseinheit ist nicht vorhanden, eine Einheit der Nationalität eben
so wenig. So kommt es eben auf die Reichseinheit heraus, die sich historisch an
die Person des römischen Kaisers knüpfte, und die nun plötzlich in eine republika¬
nische Einheit, eine Einheit des Gemeinwesens, verwandelt werden soll.

Man erlaube mir eine Zwischenbemerkung. Ich will hier über die Zweckmä¬
ßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des modernen Repräsentativst)steins, des constitutio>
retten oder republikanischen Ceutralstaats kein Urtheil fällen: ich kämpfe nur gegen
die Theorie, auf die man ihn gründen will. Diese Theorie ist eine Lüge. Ob
es in anderer Beziehung zweckmäßig ist, sämmtlichen Staatsangehörigen diesen
Schein der Betheiligung an Staatsangelegenheiten zu geben, denn mehr ist es
nicht, so lange sie von jenen Angelegenheiten nichts verstehen, das bleibt dahin¬
gestellt. Wenn man aber behauptet, daß durch solche Urwahleu in den Central-
staaten für jede einzelne Frage von politischer und staatsökonomischer Wichtigkeit
der wahre Wille des Volks und eine gesunde, vernünftige Entscheidung vermittelt
werde, so ist das wenigstens formell eine Illusion, wenn es sich anch zufällig so
herausstellte, wie ja ebeu so zufällig auch der aufgeklärte Despotismus das wahre
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lich der Werth des constitutionellen Systems liegt, davon ein andermal. Hier nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/281>, abgerufen am 26.06.2024.