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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Bruder Michel die Frage vorgelegt wird, ob er betrunken ist oder nüchtern, ob er
eben seine Frau geprügelt hat, oder von ihr geprügelt worden ist u. s. w. Man kann
sich wenigstens lebhast vorstellen, mit welchem Gesicht einer dieser Souveräne den
Regierungscommissär ansehen würde, der ihn plötzlich ans dem Rausche weckt und
fragt, ob im Staate Schutz- oder Differentialzölle eingeführt werden sollen, ob
der Zollaufschlag auf Garn erhöht oder vermindert werden soll?

Wenn also diese Demokratie vom reinsten Wasser, die in einem kleinen Frei¬
staat wie Athen wohl angemessen war, wo jeder Bürger Zeit genug hatte, in allen
Staatsangelegenheiten zu Hause zu sein, weil er die eigentliche Arbeit seinen
Sklaven überließ, in einem Reich von weitem Umfang, verschiedenartiger Bildung
und Beschäftigung durchgeführt werden sollte, so würde sie zwar recht ergötzliche,
aber nicht eben heilsame Resultate herausstellen. ES würde in diesem Fall kein
erheblicher Schaden sein, auch die "Unselbständigen" zum Staat zu ziehen, denn
der bescheidene Blödsinn würde mit demselben Erfolg poliren, als der lederhosige
Biedermann über Dinge, von denen er bisher noch nie den Namen gehört, und
für Säuglinge ließe sich wohl ein symbolischer Modus der Abstimmung finden,
indem man auf die Art des Schreiens Rücksicht nimmt.

Die echte Demokratie -- die Idee der Selbstregierung -- verlangt Theilung
des Staats in selbstständige kleine Kreise und die Organisation der Einzelnen durch
dieselben, denn wir können nur über das uns vernünftig entscheiden, was uns
geläufig ist; die Idee der Centralisation dagegen hebt die Demokratie auf und
macht bei dem Anschein demokratischer Formen die Herrschaft der Unvernunft, die
bei dem Despotismus nur wahrscheinlich ist, zur Nothwendigkeit.

Um diese Uebelstände zu vermeiden, hat man das Repräsentativsystem einge¬
führt. Da über jene Fragen -- Schutzzölle u. s. w. -- nicht jedes Individuum
im heiligen römischen Reich ein gleich gesundes Urtheil haben kann, so wird es ver¬
anlaßt, seine Souveränität ans Zeit zu verpachte". Es wählt den Mann, der ihm
imponirt, zu seinem Repräsentanten und überläßt diesem seine Rechte auszuüben.

Ein Repräsentativsystem wird um so gesunder sein, je mehr die Wahlgemcinc
ein selbstständiges Ganze bildet, je mehr der Repräsentant der wirkliche Vertreter
von dem Verstand und dem Willen nicht seiner sämmtlichen Committenten, -- denn
dann würde in der Regel als mittlere Proportionale ein sehr bescheidenes Maß
geistiger Kapacität herauskommen, -- sondern seiner Gemeinde, d. h. des kleinen
autonomen Staats ist, dem er angehört. Dieser kleine Staat verwaltet seine in¬
neren Angelegenheiten, soweit sie mit dem Ganzen nicht collidiren, mit absoluter
Autonomie, -- er kann es, denn in diesen kleinen Verhältnissen kann jeder Ein¬
zelne zu Hause sein und muß es fein, wenn er überall betheiligt wird -- und
sendet zur Ausgleichung der verschiedenen Interessen, in die Cvngreßstadt einen
Vertreter, der keine andere Aufgabe hat, als das Interesse seiner Gemeinde in
den öffentlichen Angelegenheiten wahrzunehmen. Deshalb darf er gar nicht egoi-


Bruder Michel die Frage vorgelegt wird, ob er betrunken ist oder nüchtern, ob er
eben seine Frau geprügelt hat, oder von ihr geprügelt worden ist u. s. w. Man kann
sich wenigstens lebhast vorstellen, mit welchem Gesicht einer dieser Souveräne den
Regierungscommissär ansehen würde, der ihn plötzlich ans dem Rausche weckt und
fragt, ob im Staate Schutz- oder Differentialzölle eingeführt werden sollen, ob
der Zollaufschlag auf Garn erhöht oder vermindert werden soll?

Wenn also diese Demokratie vom reinsten Wasser, die in einem kleinen Frei¬
staat wie Athen wohl angemessen war, wo jeder Bürger Zeit genug hatte, in allen
Staatsangelegenheiten zu Hause zu sein, weil er die eigentliche Arbeit seinen
Sklaven überließ, in einem Reich von weitem Umfang, verschiedenartiger Bildung
und Beschäftigung durchgeführt werden sollte, so würde sie zwar recht ergötzliche,
aber nicht eben heilsame Resultate herausstellen. ES würde in diesem Fall kein
erheblicher Schaden sein, auch die „Unselbständigen" zum Staat zu ziehen, denn
der bescheidene Blödsinn würde mit demselben Erfolg poliren, als der lederhosige
Biedermann über Dinge, von denen er bisher noch nie den Namen gehört, und
für Säuglinge ließe sich wohl ein symbolischer Modus der Abstimmung finden,
indem man auf die Art des Schreiens Rücksicht nimmt.

Die echte Demokratie — die Idee der Selbstregierung — verlangt Theilung
des Staats in selbstständige kleine Kreise und die Organisation der Einzelnen durch
dieselben, denn wir können nur über das uns vernünftig entscheiden, was uns
geläufig ist; die Idee der Centralisation dagegen hebt die Demokratie auf und
macht bei dem Anschein demokratischer Formen die Herrschaft der Unvernunft, die
bei dem Despotismus nur wahrscheinlich ist, zur Nothwendigkeit.

Um diese Uebelstände zu vermeiden, hat man das Repräsentativsystem einge¬
führt. Da über jene Fragen — Schutzzölle u. s. w. -- nicht jedes Individuum
im heiligen römischen Reich ein gleich gesundes Urtheil haben kann, so wird es ver¬
anlaßt, seine Souveränität ans Zeit zu verpachte». Es wählt den Mann, der ihm
imponirt, zu seinem Repräsentanten und überläßt diesem seine Rechte auszuüben.

Ein Repräsentativsystem wird um so gesunder sein, je mehr die Wahlgemcinc
ein selbstständiges Ganze bildet, je mehr der Repräsentant der wirkliche Vertreter
von dem Verstand und dem Willen nicht seiner sämmtlichen Committenten, — denn
dann würde in der Regel als mittlere Proportionale ein sehr bescheidenes Maß
geistiger Kapacität herauskommen, — sondern seiner Gemeinde, d. h. des kleinen
autonomen Staats ist, dem er angehört. Dieser kleine Staat verwaltet seine in¬
neren Angelegenheiten, soweit sie mit dem Ganzen nicht collidiren, mit absoluter
Autonomie, — er kann es, denn in diesen kleinen Verhältnissen kann jeder Ein¬
zelne zu Hause sein und muß es fein, wenn er überall betheiligt wird — und
sendet zur Ausgleichung der verschiedenen Interessen, in die Cvngreßstadt einen
Vertreter, der keine andere Aufgabe hat, als das Interesse seiner Gemeinde in
den öffentlichen Angelegenheiten wahrzunehmen. Deshalb darf er gar nicht egoi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/280>, abgerufen am 26.06.2024.