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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Sie übersehen dabei die Schwierigkeit, die augenblickliche Stimmung der
Majorität von ihrem wahren, vernünftigen Willen gesetzlich zu unterscheiden; die
Schwierigkeit, den Umfang, den die Volks- oder Staatseinheit einnehmen soll,
zu constatiren (wie man z. B. bei unsern deutschen Verhältnissen nicht weiß, ob
die Nation oder der Staat die Einheit motiviren soll); endlich die Schwierigkeit,
die zu einer Ansicht berechtigten Individuen von den unberechtigten zu unterschei¬
den und die Majorität derselben zu einem gesetzlichen Ausdruck zu bringen.

Die breiteste demokratische Grundlage wäre freilich, wenn sämmtliche Indivi¬
duen, die im Staate leben, ihre Stimme abgaben. Bei den Säuglingen indessen
verbietet sich das von selbst und gegen die Berechtigung der ersten Knabenjahre
werden selbst die entschiedensten Demokraten einige Einwendungen zu machen haben.
So wird denn doch wenigstens eine gewisse Altersgrenze der gleichen Berechtigung
gesteckt werden müssen und bei aller Gewissenhaftigkeit dabei eine gewisse Willkür
nicht zu vermeiden sein; man wird immer fragen, wenn der 20jährige Jüngling
sich des Stimmrechts erfreuen soll, warum nicht auch der 19jährige? u. s. w.
Die Frauen werden die "Entschiedener" wohl anch emancipiren wollen und ich
wüßte in der That nicht, warum ein großer Theil des schönen Geschlechts nicht
eben so gut über Staatsangelegenheiten mitsprechen sollte, als andere Glieder des
souveränen Volks, Eckensteher, Bediente u. s. w. Daß die aristokratische Kunst¬
fertigkeit des Lesens und Schreibens hier kein Maß geben kann, haben die preu¬
ßische" und östreichischen Wahlen gezeigt, die eine nicht geringe Zahl solcher pri¬
mitiven Naturen sogar in den Verfassungsvereinbarenden Reichstag geschickt haben.
Die neueste Formel ist die Berechtigung aller "selbstständigen" Männer; ein Begriff,
der nur den Blödsinn ausschließt. Da nun in dieser breiten Grundlage Nie>na"d
läugnen wird, daß mehr Leute ohne alle Einsicht und ohne allen Verstand in
Staatssachen vorhanden sein werden, als verständige Männer, so würde, falls
die Idee der Demokratie, die unbedingte Herrschaft der Majorität verwirklicht
werden könnte, jedesmal die Entscheidung dem Unverstand anheimfallen und so die
erste Tugend des Republikaners, die Selbstverläugnung, ans das lebhafteste und
ausdauerndste geübt werden können. Doch macht der Modus, diese Majorität zu
constatiren, neue Schwierigkeiten.

Am einfachsten machte es der Verfassungsentwurf des Nativnalconvcnts. Jede
politische Frage sollte an sämnuliche Gemeinden des Staats versandt, überall die
Zahl derer, die mit Ja oder Nein stimmten, constatirt und dann durch Addition
sämmtlicher Stimmen eine absolute Majorität erzielt weide". Ich muß dazu be¬
merken, daß selbst in dieser Form die Herrschaft der Majorität nicht rein war,
denn eS kommt doch auch auf die Fragestellung an und conscquenterweise müßte
über diese vorher gleichfalls das souveräne Volk consultirt werde". Das würde
den Geschäftsgang einigermaßen verzögern, allein anch dann wäre noch nicht alles
Bedenken gehoben. Es kommt nämlich sehr aus den Moment an, in dem manchem


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Sie übersehen dabei die Schwierigkeit, die augenblickliche Stimmung der
Majorität von ihrem wahren, vernünftigen Willen gesetzlich zu unterscheiden; die
Schwierigkeit, den Umfang, den die Volks- oder Staatseinheit einnehmen soll,
zu constatiren (wie man z. B. bei unsern deutschen Verhältnissen nicht weiß, ob
die Nation oder der Staat die Einheit motiviren soll); endlich die Schwierigkeit,
die zu einer Ansicht berechtigten Individuen von den unberechtigten zu unterschei¬
den und die Majorität derselben zu einem gesetzlichen Ausdruck zu bringen.

Die breiteste demokratische Grundlage wäre freilich, wenn sämmtliche Indivi¬
duen, die im Staate leben, ihre Stimme abgaben. Bei den Säuglingen indessen
verbietet sich das von selbst und gegen die Berechtigung der ersten Knabenjahre
werden selbst die entschiedensten Demokraten einige Einwendungen zu machen haben.
So wird denn doch wenigstens eine gewisse Altersgrenze der gleichen Berechtigung
gesteckt werden müssen und bei aller Gewissenhaftigkeit dabei eine gewisse Willkür
nicht zu vermeiden sein; man wird immer fragen, wenn der 20jährige Jüngling
sich des Stimmrechts erfreuen soll, warum nicht auch der 19jährige? u. s. w.
Die Frauen werden die „Entschiedener" wohl anch emancipiren wollen und ich
wüßte in der That nicht, warum ein großer Theil des schönen Geschlechts nicht
eben so gut über Staatsangelegenheiten mitsprechen sollte, als andere Glieder des
souveränen Volks, Eckensteher, Bediente u. s. w. Daß die aristokratische Kunst¬
fertigkeit des Lesens und Schreibens hier kein Maß geben kann, haben die preu¬
ßische» und östreichischen Wahlen gezeigt, die eine nicht geringe Zahl solcher pri¬
mitiven Naturen sogar in den Verfassungsvereinbarenden Reichstag geschickt haben.
Die neueste Formel ist die Berechtigung aller „selbstständigen" Männer; ein Begriff,
der nur den Blödsinn ausschließt. Da nun in dieser breiten Grundlage Nie>na»d
läugnen wird, daß mehr Leute ohne alle Einsicht und ohne allen Verstand in
Staatssachen vorhanden sein werden, als verständige Männer, so würde, falls
die Idee der Demokratie, die unbedingte Herrschaft der Majorität verwirklicht
werden könnte, jedesmal die Entscheidung dem Unverstand anheimfallen und so die
erste Tugend des Republikaners, die Selbstverläugnung, ans das lebhafteste und
ausdauerndste geübt werden können. Doch macht der Modus, diese Majorität zu
constatiren, neue Schwierigkeiten.

Am einfachsten machte es der Verfassungsentwurf des Nativnalconvcnts. Jede
politische Frage sollte an sämnuliche Gemeinden des Staats versandt, überall die
Zahl derer, die mit Ja oder Nein stimmten, constatirt und dann durch Addition
sämmtlicher Stimmen eine absolute Majorität erzielt weide». Ich muß dazu be¬
merken, daß selbst in dieser Form die Herrschaft der Majorität nicht rein war,
denn eS kommt doch auch auf die Fragestellung an und conscquenterweise müßte
über diese vorher gleichfalls das souveräne Volk consultirt werde». Das würde
den Geschäftsgang einigermaßen verzögern, allein anch dann wäre noch nicht alles
Bedenken gehoben. Es kommt nämlich sehr aus den Moment an, in dem manchem


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[0279] Sie übersehen dabei die Schwierigkeit, die augenblickliche Stimmung der Majorität von ihrem wahren, vernünftigen Willen gesetzlich zu unterscheiden; die Schwierigkeit, den Umfang, den die Volks- oder Staatseinheit einnehmen soll, zu constatiren (wie man z. B. bei unsern deutschen Verhältnissen nicht weiß, ob die Nation oder der Staat die Einheit motiviren soll); endlich die Schwierigkeit, die zu einer Ansicht berechtigten Individuen von den unberechtigten zu unterschei¬ den und die Majorität derselben zu einem gesetzlichen Ausdruck zu bringen. Die breiteste demokratische Grundlage wäre freilich, wenn sämmtliche Indivi¬ duen, die im Staate leben, ihre Stimme abgaben. Bei den Säuglingen indessen verbietet sich das von selbst und gegen die Berechtigung der ersten Knabenjahre werden selbst die entschiedensten Demokraten einige Einwendungen zu machen haben. So wird denn doch wenigstens eine gewisse Altersgrenze der gleichen Berechtigung gesteckt werden müssen und bei aller Gewissenhaftigkeit dabei eine gewisse Willkür nicht zu vermeiden sein; man wird immer fragen, wenn der 20jährige Jüngling sich des Stimmrechts erfreuen soll, warum nicht auch der 19jährige? u. s. w. Die Frauen werden die „Entschiedener" wohl anch emancipiren wollen und ich wüßte in der That nicht, warum ein großer Theil des schönen Geschlechts nicht eben so gut über Staatsangelegenheiten mitsprechen sollte, als andere Glieder des souveränen Volks, Eckensteher, Bediente u. s. w. Daß die aristokratische Kunst¬ fertigkeit des Lesens und Schreibens hier kein Maß geben kann, haben die preu¬ ßische» und östreichischen Wahlen gezeigt, die eine nicht geringe Zahl solcher pri¬ mitiven Naturen sogar in den Verfassungsvereinbarenden Reichstag geschickt haben. Die neueste Formel ist die Berechtigung aller „selbstständigen" Männer; ein Begriff, der nur den Blödsinn ausschließt. Da nun in dieser breiten Grundlage Nie>na»d läugnen wird, daß mehr Leute ohne alle Einsicht und ohne allen Verstand in Staatssachen vorhanden sein werden, als verständige Männer, so würde, falls die Idee der Demokratie, die unbedingte Herrschaft der Majorität verwirklicht werden könnte, jedesmal die Entscheidung dem Unverstand anheimfallen und so die erste Tugend des Republikaners, die Selbstverläugnung, ans das lebhafteste und ausdauerndste geübt werden können. Doch macht der Modus, diese Majorität zu constatiren, neue Schwierigkeiten. Am einfachsten machte es der Verfassungsentwurf des Nativnalconvcnts. Jede politische Frage sollte an sämnuliche Gemeinden des Staats versandt, überall die Zahl derer, die mit Ja oder Nein stimmten, constatirt und dann durch Addition sämmtlicher Stimmen eine absolute Majorität erzielt weide». Ich muß dazu be¬ merken, daß selbst in dieser Form die Herrschaft der Majorität nicht rein war, denn eS kommt doch auch auf die Fragestellung an und conscquenterweise müßte über diese vorher gleichfalls das souveräne Volk consultirt werde». Das würde den Geschäftsgang einigermaßen verzögern, allein anch dann wäre noch nicht alles Bedenken gehoben. Es kommt nämlich sehr aus den Moment an, in dem manchem 35*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/279>, abgerufen am 26.06.2024.