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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Hohenpriesters der Tugend am 9. Thermidor gefallen, als die alte Liederlichkeit,
der alte Luxus, der alte Egoismus wieder hervortraten. Es bedürfte keines Na¬
poleon, die Restauration der Sitten herbeizuführen, er gab ihr nur die angemessene
politische Form.

Nicht einmal das äußerliche Räderwerk des alten Staats kann völlig gebro¬
chen werden; ein Beamter tritt an die Stelle des andern, aber die Voraussetzungen
bleiben, selbst die Geschäftsroutine ist nicht zu umgehen. Die französische Polizei
hat alle Revolutionen überlebt, sie hat allen gedient.

Die Revolution ist eine Erscheinung der Natur; die Geschichte darf mit einer
Kraft, die über ihr steht, nicht schulmeisterlich rechten. Aber jeden Einzelnen zieht
sie vor ihren Richterstuhl und ihre Verdammung trifft Jeden, der in ehrgeiziger
Verblendung die Revolution, die nur dann heilsam wirkt, wenn sie schnell vor¬
übergeht wie ein Gewitter, zu einem permanenten Zustand , zu einem künstlichen
Fieberkrampf verlängert. Die Schöpfung eines Staats ans dem Begriff her¬
aus ist am wenigsten möglich in einem Zustand der Trunkenheit, der um so
krankhafter ist, je vollkommener der Betrunkene sich selber in seiner Exaltation
vorkommt. Dem wilden Rausch folgt nicht nur Erwachen, sondern auch Katzen¬
jammer.

Bei sehr Vielen, die für eine Permanenzerklärung der Revolution schwärmen,
ist es nicht Bösartigkeit, nicht blos der knabenhafte Trieb nach einer Aufregung,
woher sie auch kommen möge, sondern die Ungeduld, Alles auf einmal abzumachen.
In einem Augenblicke soll geschehen, was wohlbedächtig nur die Zeit gewährt.
Sie halten das gewaltsamste Mittel für das schnellste, sie rufen zur Herstellung
der Einheit einen allgemeinen Krieg hervor. Marat, der konsequenteste dieser
Art, wollte die halbe Generation ausrotten, um Raum für die neuen Schöpfungen
zu haben. Wenn man von dem unmittelbaren, absoluten Wissen des Guten aus¬
geht, so ist eine solche Brutalität leicht erklärlich -- bei einem Innocenz wie bei
einem Jacobiner. Es ist nichts als der aufgeklärte Despotismus in seiner rein¬
sten, also rohesten Form, ungemischt mit den Rücksichten, die eine Erziehung zum
Herrschen auch dem leidenschaftlichsten Gemüth auferlegt.

Es gibt neben diesen Fanatikern der unfehlbaren Tugend eine andere Partei
der reinen Demokratie, die man die reflgnirte nennen kann. Da das Volk doch
nicht Einen Willen hat, so wird diese Einheit des Willens künstlich hervorgebracht:
das Volk besteht aus einer gewissen Anzahl von Individuen und was die Majo¬
rität derselben will, ist der Wille des Volks. Sie sind ehrlicher in ihrer Theorie,
als jene Freiheitsapostel, die das "Volk" nur sprechen lassen, was sie selber wollen
und die jeden andern Willensausdruck mit Kartätschen und mit Guillotinen widere
legen; sie sind eben so befangen in der Idee der UniforMität. Auch der Unsinn,
den die Majorität will, soll gelten, auch dem unvernünftigen Gesetz, das von
einer größern Kopfzahl gegeben ist, soll die vernünftige Minderheit sich fügen.


Hohenpriesters der Tugend am 9. Thermidor gefallen, als die alte Liederlichkeit,
der alte Luxus, der alte Egoismus wieder hervortraten. Es bedürfte keines Na¬
poleon, die Restauration der Sitten herbeizuführen, er gab ihr nur die angemessene
politische Form.

Nicht einmal das äußerliche Räderwerk des alten Staats kann völlig gebro¬
chen werden; ein Beamter tritt an die Stelle des andern, aber die Voraussetzungen
bleiben, selbst die Geschäftsroutine ist nicht zu umgehen. Die französische Polizei
hat alle Revolutionen überlebt, sie hat allen gedient.

Die Revolution ist eine Erscheinung der Natur; die Geschichte darf mit einer
Kraft, die über ihr steht, nicht schulmeisterlich rechten. Aber jeden Einzelnen zieht
sie vor ihren Richterstuhl und ihre Verdammung trifft Jeden, der in ehrgeiziger
Verblendung die Revolution, die nur dann heilsam wirkt, wenn sie schnell vor¬
übergeht wie ein Gewitter, zu einem permanenten Zustand , zu einem künstlichen
Fieberkrampf verlängert. Die Schöpfung eines Staats ans dem Begriff her¬
aus ist am wenigsten möglich in einem Zustand der Trunkenheit, der um so
krankhafter ist, je vollkommener der Betrunkene sich selber in seiner Exaltation
vorkommt. Dem wilden Rausch folgt nicht nur Erwachen, sondern auch Katzen¬
jammer.

Bei sehr Vielen, die für eine Permanenzerklärung der Revolution schwärmen,
ist es nicht Bösartigkeit, nicht blos der knabenhafte Trieb nach einer Aufregung,
woher sie auch kommen möge, sondern die Ungeduld, Alles auf einmal abzumachen.
In einem Augenblicke soll geschehen, was wohlbedächtig nur die Zeit gewährt.
Sie halten das gewaltsamste Mittel für das schnellste, sie rufen zur Herstellung
der Einheit einen allgemeinen Krieg hervor. Marat, der konsequenteste dieser
Art, wollte die halbe Generation ausrotten, um Raum für die neuen Schöpfungen
zu haben. Wenn man von dem unmittelbaren, absoluten Wissen des Guten aus¬
geht, so ist eine solche Brutalität leicht erklärlich — bei einem Innocenz wie bei
einem Jacobiner. Es ist nichts als der aufgeklärte Despotismus in seiner rein¬
sten, also rohesten Form, ungemischt mit den Rücksichten, die eine Erziehung zum
Herrschen auch dem leidenschaftlichsten Gemüth auferlegt.

Es gibt neben diesen Fanatikern der unfehlbaren Tugend eine andere Partei
der reinen Demokratie, die man die reflgnirte nennen kann. Da das Volk doch
nicht Einen Willen hat, so wird diese Einheit des Willens künstlich hervorgebracht:
das Volk besteht aus einer gewissen Anzahl von Individuen und was die Majo¬
rität derselben will, ist der Wille des Volks. Sie sind ehrlicher in ihrer Theorie,
als jene Freiheitsapostel, die das „Volk" nur sprechen lassen, was sie selber wollen
und die jeden andern Willensausdruck mit Kartätschen und mit Guillotinen widere
legen; sie sind eben so befangen in der Idee der UniforMität. Auch der Unsinn,
den die Majorität will, soll gelten, auch dem unvernünftigen Gesetz, das von
einer größern Kopfzahl gegeben ist, soll die vernünftige Minderheit sich fügen.


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[0278] Hohenpriesters der Tugend am 9. Thermidor gefallen, als die alte Liederlichkeit, der alte Luxus, der alte Egoismus wieder hervortraten. Es bedürfte keines Na¬ poleon, die Restauration der Sitten herbeizuführen, er gab ihr nur die angemessene politische Form. Nicht einmal das äußerliche Räderwerk des alten Staats kann völlig gebro¬ chen werden; ein Beamter tritt an die Stelle des andern, aber die Voraussetzungen bleiben, selbst die Geschäftsroutine ist nicht zu umgehen. Die französische Polizei hat alle Revolutionen überlebt, sie hat allen gedient. Die Revolution ist eine Erscheinung der Natur; die Geschichte darf mit einer Kraft, die über ihr steht, nicht schulmeisterlich rechten. Aber jeden Einzelnen zieht sie vor ihren Richterstuhl und ihre Verdammung trifft Jeden, der in ehrgeiziger Verblendung die Revolution, die nur dann heilsam wirkt, wenn sie schnell vor¬ übergeht wie ein Gewitter, zu einem permanenten Zustand , zu einem künstlichen Fieberkrampf verlängert. Die Schöpfung eines Staats ans dem Begriff her¬ aus ist am wenigsten möglich in einem Zustand der Trunkenheit, der um so krankhafter ist, je vollkommener der Betrunkene sich selber in seiner Exaltation vorkommt. Dem wilden Rausch folgt nicht nur Erwachen, sondern auch Katzen¬ jammer. Bei sehr Vielen, die für eine Permanenzerklärung der Revolution schwärmen, ist es nicht Bösartigkeit, nicht blos der knabenhafte Trieb nach einer Aufregung, woher sie auch kommen möge, sondern die Ungeduld, Alles auf einmal abzumachen. In einem Augenblicke soll geschehen, was wohlbedächtig nur die Zeit gewährt. Sie halten das gewaltsamste Mittel für das schnellste, sie rufen zur Herstellung der Einheit einen allgemeinen Krieg hervor. Marat, der konsequenteste dieser Art, wollte die halbe Generation ausrotten, um Raum für die neuen Schöpfungen zu haben. Wenn man von dem unmittelbaren, absoluten Wissen des Guten aus¬ geht, so ist eine solche Brutalität leicht erklärlich — bei einem Innocenz wie bei einem Jacobiner. Es ist nichts als der aufgeklärte Despotismus in seiner rein¬ sten, also rohesten Form, ungemischt mit den Rücksichten, die eine Erziehung zum Herrschen auch dem leidenschaftlichsten Gemüth auferlegt. Es gibt neben diesen Fanatikern der unfehlbaren Tugend eine andere Partei der reinen Demokratie, die man die reflgnirte nennen kann. Da das Volk doch nicht Einen Willen hat, so wird diese Einheit des Willens künstlich hervorgebracht: das Volk besteht aus einer gewissen Anzahl von Individuen und was die Majo¬ rität derselben will, ist der Wille des Volks. Sie sind ehrlicher in ihrer Theorie, als jene Freiheitsapostel, die das „Volk" nur sprechen lassen, was sie selber wollen und die jeden andern Willensausdruck mit Kartätschen und mit Guillotinen widere legen; sie sind eben so befangen in der Idee der UniforMität. Auch der Unsinn, den die Majorität will, soll gelten, auch dem unvernünftigen Gesetz, das von einer größern Kopfzahl gegeben ist, soll die vernünftige Minderheit sich fügen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/278>, abgerufen am 26.06.2024.