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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Entschiedenheit nach zwei Seiten auf einmal zu gehn. Um bei jenem Beispiel zu
bleiben: die Halben, d. h. die Männer der gesinnungsvollen Opposition, werden
die beiden Prinzipien von der Freiheit aller Völker, sonderlich der Polen, und von
der Integrität des deutschen Reichs, zuerst theoretisch vorausschicke" und sich dann
durch irgend eine praktische Rücksicht für das eine oder das andere bestimmen
lassen; die "Entschiedener" dagegen, die Apostel der unbeschränkten Vernunft, die
jede praktische Schwierigkeit durch ein einfaches Decret heben, werden sich frisch¬
weg für beides zugleich entscheiden: Polen muß frei sein und Deutschland darf
Nichts herausgeben. Weil die Wissenschaften der Geographie, Statistik u. s. w.
gegen diese Art der Entscheidung unnütze Weitläufigkeiten erheben, so sind sie
Erfindungen der Reaction, und die Regierung, die sich durch sie abhalten läßt,
zugleich das eine und das andere zu thun, ist hochverrätherisch. Denn eben
jene Schwierigkeiten leiten sich aus der Geschichte her, Geschichte selbst aber ist
die fleischgewordne Reaction, eine Mumie vergangener Jahrhunderte u. s. w., und
nur indem wir unbedingt mit ihr brechen, werden wir frei. Wenn wir ihre Re¬
sultate nicht unbedingt aufheben können -- praktische Freiheit --, so sollen wir
sie wenigstens ignoriren -- rheoretische Freiheit.

Diese theoretische Freiheit läßt sich systematisch abrunden und empfiehlt sich in
der Form eines Katechismus dem Gedächtniß. Es ist aber an der Zeit, die Haupt¬
artikel desselben zusammenzustellen, damit man sich hüte, dagegen zu verstoßen und
in den Geruch reaktionärer Gesinnung zu kommen.

Der Katechismus der zeitgemäßen Freiheit enthält drei Kapitel:
I. Von der Volkssouveränität.
II. Von der Gleichheit aller Menschen.
III. Von der Einheit und Unteilbarkeit des gesammten
Menschengeschlechts.

Mit der ehrfurchtsvollen Scheu, mit welcher die alten Scholastiker an die
Geheimnisse des christlichen Glaubens gingen, nicht um sie aufzulösen, sondern um
das Eigenthum des Glaubens auch dem Verstände genehm zu machen, mit der
Andacht, mit welcher Luther das: "Was ist das?" zu den 10 Geboten und dem
übrigen Glaubensapparat hinzufügte, unternehmen wir die Specialisirung und nä¬
here Begründung dieser Dogmen, die um so unumstößlicher sind, je weniger imm
sich dabei denkt. Man erinnere sich an den süßen Schauder, welcher die Frank'
fürter Versammlung erfaßte, als der Präsident, der doch einen gelinden, ganz
gelinden Anstrich von reamonärem Wesen nickt verleugnen konnte, dieses große
Prinzip proclamirte. Nicht um diesen Schauder -- der Menschheit letztes Theil
-- abzustreifen, sondern um uns ihm mit gutem Gewissen überlassen zu können,
gehen wir an den ersten Artikel:


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Entschiedenheit nach zwei Seiten auf einmal zu gehn. Um bei jenem Beispiel zu
bleiben: die Halben, d. h. die Männer der gesinnungsvollen Opposition, werden
die beiden Prinzipien von der Freiheit aller Völker, sonderlich der Polen, und von
der Integrität des deutschen Reichs, zuerst theoretisch vorausschicke» und sich dann
durch irgend eine praktische Rücksicht für das eine oder das andere bestimmen
lassen; die „Entschiedener" dagegen, die Apostel der unbeschränkten Vernunft, die
jede praktische Schwierigkeit durch ein einfaches Decret heben, werden sich frisch¬
weg für beides zugleich entscheiden: Polen muß frei sein und Deutschland darf
Nichts herausgeben. Weil die Wissenschaften der Geographie, Statistik u. s. w.
gegen diese Art der Entscheidung unnütze Weitläufigkeiten erheben, so sind sie
Erfindungen der Reaction, und die Regierung, die sich durch sie abhalten läßt,
zugleich das eine und das andere zu thun, ist hochverrätherisch. Denn eben
jene Schwierigkeiten leiten sich aus der Geschichte her, Geschichte selbst aber ist
die fleischgewordne Reaction, eine Mumie vergangener Jahrhunderte u. s. w., und
nur indem wir unbedingt mit ihr brechen, werden wir frei. Wenn wir ihre Re¬
sultate nicht unbedingt aufheben können — praktische Freiheit —, so sollen wir
sie wenigstens ignoriren — rheoretische Freiheit.

Diese theoretische Freiheit läßt sich systematisch abrunden und empfiehlt sich in
der Form eines Katechismus dem Gedächtniß. Es ist aber an der Zeit, die Haupt¬
artikel desselben zusammenzustellen, damit man sich hüte, dagegen zu verstoßen und
in den Geruch reaktionärer Gesinnung zu kommen.

Der Katechismus der zeitgemäßen Freiheit enthält drei Kapitel:
I. Von der Volkssouveränität.
II. Von der Gleichheit aller Menschen.
III. Von der Einheit und Unteilbarkeit des gesammten
Menschengeschlechts.

Mit der ehrfurchtsvollen Scheu, mit welcher die alten Scholastiker an die
Geheimnisse des christlichen Glaubens gingen, nicht um sie aufzulösen, sondern um
das Eigenthum des Glaubens auch dem Verstände genehm zu machen, mit der
Andacht, mit welcher Luther das: „Was ist das?" zu den 10 Geboten und dem
übrigen Glaubensapparat hinzufügte, unternehmen wir die Specialisirung und nä¬
here Begründung dieser Dogmen, die um so unumstößlicher sind, je weniger imm
sich dabei denkt. Man erinnere sich an den süßen Schauder, welcher die Frank'
fürter Versammlung erfaßte, als der Präsident, der doch einen gelinden, ganz
gelinden Anstrich von reamonärem Wesen nickt verleugnen konnte, dieses große
Prinzip proclamirte. Nicht um diesen Schauder — der Menschheit letztes Theil
-- abzustreifen, sondern um uns ihm mit gutem Gewissen überlassen zu können,
gehen wir an den ersten Artikel:


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[0271] Entschiedenheit nach zwei Seiten auf einmal zu gehn. Um bei jenem Beispiel zu bleiben: die Halben, d. h. die Männer der gesinnungsvollen Opposition, werden die beiden Prinzipien von der Freiheit aller Völker, sonderlich der Polen, und von der Integrität des deutschen Reichs, zuerst theoretisch vorausschicke» und sich dann durch irgend eine praktische Rücksicht für das eine oder das andere bestimmen lassen; die „Entschiedener" dagegen, die Apostel der unbeschränkten Vernunft, die jede praktische Schwierigkeit durch ein einfaches Decret heben, werden sich frisch¬ weg für beides zugleich entscheiden: Polen muß frei sein und Deutschland darf Nichts herausgeben. Weil die Wissenschaften der Geographie, Statistik u. s. w. gegen diese Art der Entscheidung unnütze Weitläufigkeiten erheben, so sind sie Erfindungen der Reaction, und die Regierung, die sich durch sie abhalten läßt, zugleich das eine und das andere zu thun, ist hochverrätherisch. Denn eben jene Schwierigkeiten leiten sich aus der Geschichte her, Geschichte selbst aber ist die fleischgewordne Reaction, eine Mumie vergangener Jahrhunderte u. s. w., und nur indem wir unbedingt mit ihr brechen, werden wir frei. Wenn wir ihre Re¬ sultate nicht unbedingt aufheben können — praktische Freiheit —, so sollen wir sie wenigstens ignoriren — rheoretische Freiheit. Diese theoretische Freiheit läßt sich systematisch abrunden und empfiehlt sich in der Form eines Katechismus dem Gedächtniß. Es ist aber an der Zeit, die Haupt¬ artikel desselben zusammenzustellen, damit man sich hüte, dagegen zu verstoßen und in den Geruch reaktionärer Gesinnung zu kommen. Der Katechismus der zeitgemäßen Freiheit enthält drei Kapitel: I. Von der Volkssouveränität. II. Von der Gleichheit aller Menschen. III. Von der Einheit und Unteilbarkeit des gesammten Menschengeschlechts. Mit der ehrfurchtsvollen Scheu, mit welcher die alten Scholastiker an die Geheimnisse des christlichen Glaubens gingen, nicht um sie aufzulösen, sondern um das Eigenthum des Glaubens auch dem Verstände genehm zu machen, mit der Andacht, mit welcher Luther das: „Was ist das?" zu den 10 Geboten und dem übrigen Glaubensapparat hinzufügte, unternehmen wir die Specialisirung und nä¬ here Begründung dieser Dogmen, die um so unumstößlicher sind, je weniger imm sich dabei denkt. Man erinnere sich an den süßen Schauder, welcher die Frank' fürter Versammlung erfaßte, als der Präsident, der doch einen gelinden, ganz gelinden Anstrich von reamonärem Wesen nickt verleugnen konnte, dieses große Prinzip proclamirte. Nicht um diesen Schauder — der Menschheit letztes Theil -- abzustreifen, sondern um uns ihm mit gutem Gewissen überlassen zu können, gehen wir an den ersten Artikel: 34*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/271>, abgerufen am 26.06.2024.