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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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lichkeit des Charakters, mit dem die Deutschen sich seit alten Zeiten gequält ha¬
ben, spielt nun in dem französischen Romane eine Hauptrolle. Immer war eS
Chateaubriand, der die Bahn gebrochen hat von der Convenienz der alten Kälte
und Glätte zu der neuen Convenienz der Salbung und Innigkeit. Unter den
modernen Schriftstellern haben Lamartine, Capefigue und Lamenais, so
verschieden sie unter sich sind, Chateaubriand's Wesen am meisten in sich aufge¬
nommen. Die Verwandtschaft mit Lamartine ist schlagend; sie verdient aber eine
eigene Betrachtung. Mit Victor Hugo trat die französische Romantik in ihre
zweite Phase; sie begann nun, gleichzeitig mit Heine, in dem sogenannten Schmutz
des Lebens, in Verbrechern und Narren, die ursprüngliche Poesie und Berechtigung
aufzusuchen. Immer war es der heimliche Gedanke des absoluten Ideals, das
der geschichtlichen Entwickelung gegenübergestellt -- wie Rudolph in den Mysterien,
Martin, Monte Christo :c. -- von dem Glanz seiner eigenen Erscheinung das
eigenthümliche Schlaglicht in jene dunkeln Regionen warf. Immer steht bei dem
katholischen Dusein der Himmel in seiner Reinheit der Erde gegenüber, wo sie ihn
auch suchen mögen; im Urwald von Amerika, in der Südsee, im verloren gegan¬
genen Urstaat oder in den Heimlichkeiten des Gemüths; sie machen nicht Ernst
mit dem Glauben an die Wirklichkeit; auch wenn sie die Realität fassen und pia^
stisch zu schildern suchen, stellte sie nur den Gegensatz ihres Glaubens oder den
Inhalt ihres Unglaubens dar. Der Inhalt ihres ethischen Bewußtseins steht un¬
antastbar fest, in den Il"iso"8 ijsnxoieuZes wie in Eugen Sue, in Paul de Kock
und Voltaire wie in Chateaubriand und Rousseau. Darum hat der Franzose keine
Spur von Humor und auch in diesem Sinne ist Chateaubriand ein Bild der mo¬
I. L. dernen französischen Literatur.




lichkeit des Charakters, mit dem die Deutschen sich seit alten Zeiten gequält ha¬
ben, spielt nun in dem französischen Romane eine Hauptrolle. Immer war eS
Chateaubriand, der die Bahn gebrochen hat von der Convenienz der alten Kälte
und Glätte zu der neuen Convenienz der Salbung und Innigkeit. Unter den
modernen Schriftstellern haben Lamartine, Capefigue und Lamenais, so
verschieden sie unter sich sind, Chateaubriand's Wesen am meisten in sich aufge¬
nommen. Die Verwandtschaft mit Lamartine ist schlagend; sie verdient aber eine
eigene Betrachtung. Mit Victor Hugo trat die französische Romantik in ihre
zweite Phase; sie begann nun, gleichzeitig mit Heine, in dem sogenannten Schmutz
des Lebens, in Verbrechern und Narren, die ursprüngliche Poesie und Berechtigung
aufzusuchen. Immer war es der heimliche Gedanke des absoluten Ideals, das
der geschichtlichen Entwickelung gegenübergestellt — wie Rudolph in den Mysterien,
Martin, Monte Christo :c. — von dem Glanz seiner eigenen Erscheinung das
eigenthümliche Schlaglicht in jene dunkeln Regionen warf. Immer steht bei dem
katholischen Dusein der Himmel in seiner Reinheit der Erde gegenüber, wo sie ihn
auch suchen mögen; im Urwald von Amerika, in der Südsee, im verloren gegan¬
genen Urstaat oder in den Heimlichkeiten des Gemüths; sie machen nicht Ernst
mit dem Glauben an die Wirklichkeit; auch wenn sie die Realität fassen und pia^
stisch zu schildern suchen, stellte sie nur den Gegensatz ihres Glaubens oder den
Inhalt ihres Unglaubens dar. Der Inhalt ihres ethischen Bewußtseins steht un¬
antastbar fest, in den Il»iso»8 ijsnxoieuZes wie in Eugen Sue, in Paul de Kock
und Voltaire wie in Chateaubriand und Rousseau. Darum hat der Franzose keine
Spur von Humor und auch in diesem Sinne ist Chateaubriand ein Bild der mo¬
I. L. dernen französischen Literatur.




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[0174] lichkeit des Charakters, mit dem die Deutschen sich seit alten Zeiten gequält ha¬ ben, spielt nun in dem französischen Romane eine Hauptrolle. Immer war eS Chateaubriand, der die Bahn gebrochen hat von der Convenienz der alten Kälte und Glätte zu der neuen Convenienz der Salbung und Innigkeit. Unter den modernen Schriftstellern haben Lamartine, Capefigue und Lamenais, so verschieden sie unter sich sind, Chateaubriand's Wesen am meisten in sich aufge¬ nommen. Die Verwandtschaft mit Lamartine ist schlagend; sie verdient aber eine eigene Betrachtung. Mit Victor Hugo trat die französische Romantik in ihre zweite Phase; sie begann nun, gleichzeitig mit Heine, in dem sogenannten Schmutz des Lebens, in Verbrechern und Narren, die ursprüngliche Poesie und Berechtigung aufzusuchen. Immer war es der heimliche Gedanke des absoluten Ideals, das der geschichtlichen Entwickelung gegenübergestellt — wie Rudolph in den Mysterien, Martin, Monte Christo :c. — von dem Glanz seiner eigenen Erscheinung das eigenthümliche Schlaglicht in jene dunkeln Regionen warf. Immer steht bei dem katholischen Dusein der Himmel in seiner Reinheit der Erde gegenüber, wo sie ihn auch suchen mögen; im Urwald von Amerika, in der Südsee, im verloren gegan¬ genen Urstaat oder in den Heimlichkeiten des Gemüths; sie machen nicht Ernst mit dem Glauben an die Wirklichkeit; auch wenn sie die Realität fassen und pia^ stisch zu schildern suchen, stellte sie nur den Gegensatz ihres Glaubens oder den Inhalt ihres Unglaubens dar. Der Inhalt ihres ethischen Bewußtseins steht un¬ antastbar fest, in den Il»iso»8 ijsnxoieuZes wie in Eugen Sue, in Paul de Kock und Voltaire wie in Chateaubriand und Rousseau. Darum hat der Franzose keine Spur von Humor und auch in diesem Sinne ist Chateaubriand ein Bild der mo¬ I. L. dernen französischen Literatur.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/174>, abgerufen am 22.07.2024.