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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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selbst und die katholische Ketzerei, sie geht nicht aus der Angst deS Herzens und
des Gewissens hervor; sie entspringt aus der träumerischen Bequemlichkeit eines an
Autorität gewöhnten Geistes, der lieber bei seinen Illusionen bleibt, als sich der
Mühe der eigenen Production zu unterziehen.

Dieselbe phantastische Verklärung, die weiter nichts ist, als der Dämmer des
Unbekannten, Fremden, Ahnungsvollen, ergoß sich in der Ansicht der neuen Ro¬
mantik über alle Theile der Geschichte. Während der rationalistische Pragmatis¬
mus alle unklaren Phasen der Geschichte möglichst ignorirte, suchte die Romantik
die "Nachtseite" der Geschichtswissenschaft mit besonderer Vorliebe hervor, um ihr
Ahnungsvermögen zu stärken. Sie bewegt sich an der Quelle des Mississippi, des
Nil, des Jordan, wenn sie als Ausbeute auch nur einige Steinchen, einiges
todte Wasser und einiges Schilf mitbringt. Sie verweilt aus den Ruinen von
Rom und gräbt in den Katakomben nach Märtyrergebeinen, weil sie in dieser Weise
die Idee des poetischen Kosmopolitismus -- der Kaiserstadt und des Stuhles
Petri -- rein erhält, ohne die realistische Beimischung des Forums, der GerichtS-
und Volksversammlungen. Sie sieht mit Vorliebe auf die Blüthe des Mittel¬
alters, die Kreuzfahrten, das Ritterthum und den Adel, und es ist nicht ohne Be¬
deutung für ihre reflectirte Auffassung des Feudalweseus, daß der aristokratische
Champion der Legitimität, Vicomte v. Chateaubriand, eigentlich nichts anders
war, als Monsieur Lepretre, der Sohn des reichen Stockstschhändlers von Se.
Malo. So wie die Protestanten eigentlich den Tiefsinn der katholischen Kirche
entdeckt haben, so die Bürgerlichen die Bedeutung der Adelsinstitution. Burke,
der Bourgeois, mußte den whiggistischen Herzog v. Northumberland erst von sei¬
ner eigenen Würde als Edelmann unterrichten, Adam Müller, der Verehrer der
Stammbäume, erhielt erst nachträglich die drei verhängnißvollen Buchstaben zum
Geschenk; der spätere d'Jsraeli mußte sich auf die zweideutige Genealogie des
Stammes Jsaschar beziehen. Ueber das Mittelalter trat eigentlich in der An¬
schauung des romantischen Historikers das goldene Zeitalter Ludwigs XIV. her¬
vor; hier war Adel, Hof, Bildung, Ritterlichkeit, Gloire in besserer Harmonie,
als in den wüsten Steppen der Völkerwanderung. Die Vorliebe für den gottge¬
sandten Kaiser vertrug sich daher ganz wohl mit der legitimen Verehrung vor der
angestammten, ebenfalls von Gott eingesetzten Dynastie, und die Wiege des Königs
von Rom weckte eben so sinnige Betrachtungen als die des jungen Heinrich, ob¬
gleich nur der Taufe des letzten das Wasser aus dem Jordan zu Gute kam. Nur
ob die Politik ungemüthlich wurde, mochte Chateaubriand nichts weiter damit zu
thun haben; mit der Hinrichtung des Herzogs von Enghien verließ er Napoleons
Dienst. --

Mit all diesen historischen Rücksichten vermischte sich noch die Romantik der
Freiheit, Reminiscenzen aus der Erstürmung der Bastille und Anklänge aus dem
ha iri.. Ein aristokratisches Wohlgefallen, wie es Lord Byron an den Klepb-


selbst und die katholische Ketzerei, sie geht nicht aus der Angst deS Herzens und
des Gewissens hervor; sie entspringt aus der träumerischen Bequemlichkeit eines an
Autorität gewöhnten Geistes, der lieber bei seinen Illusionen bleibt, als sich der
Mühe der eigenen Production zu unterziehen.

Dieselbe phantastische Verklärung, die weiter nichts ist, als der Dämmer des
Unbekannten, Fremden, Ahnungsvollen, ergoß sich in der Ansicht der neuen Ro¬
mantik über alle Theile der Geschichte. Während der rationalistische Pragmatis¬
mus alle unklaren Phasen der Geschichte möglichst ignorirte, suchte die Romantik
die „Nachtseite" der Geschichtswissenschaft mit besonderer Vorliebe hervor, um ihr
Ahnungsvermögen zu stärken. Sie bewegt sich an der Quelle des Mississippi, des
Nil, des Jordan, wenn sie als Ausbeute auch nur einige Steinchen, einiges
todte Wasser und einiges Schilf mitbringt. Sie verweilt aus den Ruinen von
Rom und gräbt in den Katakomben nach Märtyrergebeinen, weil sie in dieser Weise
die Idee des poetischen Kosmopolitismus — der Kaiserstadt und des Stuhles
Petri — rein erhält, ohne die realistische Beimischung des Forums, der GerichtS-
und Volksversammlungen. Sie sieht mit Vorliebe auf die Blüthe des Mittel¬
alters, die Kreuzfahrten, das Ritterthum und den Adel, und es ist nicht ohne Be¬
deutung für ihre reflectirte Auffassung des Feudalweseus, daß der aristokratische
Champion der Legitimität, Vicomte v. Chateaubriand, eigentlich nichts anders
war, als Monsieur Lepretre, der Sohn des reichen Stockstschhändlers von Se.
Malo. So wie die Protestanten eigentlich den Tiefsinn der katholischen Kirche
entdeckt haben, so die Bürgerlichen die Bedeutung der Adelsinstitution. Burke,
der Bourgeois, mußte den whiggistischen Herzog v. Northumberland erst von sei¬
ner eigenen Würde als Edelmann unterrichten, Adam Müller, der Verehrer der
Stammbäume, erhielt erst nachträglich die drei verhängnißvollen Buchstaben zum
Geschenk; der spätere d'Jsraeli mußte sich auf die zweideutige Genealogie des
Stammes Jsaschar beziehen. Ueber das Mittelalter trat eigentlich in der An¬
schauung des romantischen Historikers das goldene Zeitalter Ludwigs XIV. her¬
vor; hier war Adel, Hof, Bildung, Ritterlichkeit, Gloire in besserer Harmonie,
als in den wüsten Steppen der Völkerwanderung. Die Vorliebe für den gottge¬
sandten Kaiser vertrug sich daher ganz wohl mit der legitimen Verehrung vor der
angestammten, ebenfalls von Gott eingesetzten Dynastie, und die Wiege des Königs
von Rom weckte eben so sinnige Betrachtungen als die des jungen Heinrich, ob¬
gleich nur der Taufe des letzten das Wasser aus dem Jordan zu Gute kam. Nur
ob die Politik ungemüthlich wurde, mochte Chateaubriand nichts weiter damit zu
thun haben; mit der Hinrichtung des Herzogs von Enghien verließ er Napoleons
Dienst. —

Mit all diesen historischen Rücksichten vermischte sich noch die Romantik der
Freiheit, Reminiscenzen aus der Erstürmung der Bastille und Anklänge aus dem
ha iri.. Ein aristokratisches Wohlgefallen, wie es Lord Byron an den Klepb-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/172>, abgerufen am 22.07.2024.