Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beabsichtigten Restauration des Christenthums, oder wenn man will, der Verkün¬
digung des neuen Evangeliums, die Glaubensgenossen Chateaubriand's.

Die Natur wurde von der damaligen Seurimentalität heimgesucht, weil sie
in ihrer Ursprünglichkeit über der Nothwendigkeit des Wechsels steht, welche die
geistigen Bestrebungen beherrscht; weil sie ferner keinen Sinn in sich selber trägt, son¬
dern sich den Experimenten der wechselnden Stimmung hingibt. Reizbare Gemü¬
ther können auch gegen einen Grashalm zärtlich sein, nur nicht gegen unzärtliche
Menschen. Mit der Natur kann mau spielen, wie mit den Kindern, dieses letzte
reelle Nachbild der Unschuld, wie sie in dem Paradiese gewesen war, bevor Eva
in den Apfel biß.

Bei diesem Interesse an der Natur und der damit zusammenhängenden Un¬
schuld darf man wohl fragen: wie verhielt sich Chateaubriand zu einem Hof, der
uuter deu Erinnerungen des O^it "Jo Kneuk, der liiüsnns it-in^ol-on"";" und der
Crebillonschen Romane groß geworden war? zu einem Hof, dessen ruchlosester
Prinz -- Karl X,, zum Prorotyp der Legitimität erhoben war, zusammen mit der
heißblütigen Neapolitanerin, der Mutter des gottgesandten Knaben, dessen Wiege
Chateaubriand mit heiligem Wasser ans dem Jordan benetzte?

Die Frechheit, mit welcher der Dichter der Lucinde und seine Anhänger jeden
excentrischen Ausbruch eiues genialen Gemüths für Natur, und daher für Un¬
schuld ausgaben, konnten die Franzosen nicht nachahmen. Eine solche Art reflectirter
Frechheit verstieß gegen den guten Ton. Chateaubriand kam es zu Statten, daß
er Katholik war. Die Kirche hat einen weiten Liebesmautel für menschliche Schwä¬
chen, sie absolvirt und macht das Geschehene ungeschehen. Chateaubriand igno-
rirte, was nicht zu loben war, er war der Anwalt der schönen Sünderin, weil
er sein Verhältniß zu ihr symbolisch auffaßte: wie die Kutte den sündhafte" Prie¬
ster, so heiligte ihm die Majestät der Krone und die Majestät des Unglücks den
Träger, wie er auch sonst beschaffen sein mochte. Der Deutsche ist darin gewissen¬
hafter, der Franzose geht mit anständigen Achselzucken über Alles hinweg, was
nicht mehr zu ändern ist. Er erzählt in seiner Geschichte, was ihm paßt, das
Uevrige läßt er gehn; und darin beobachtet er den Anstand weit mehr als der
Deutsche, dessen Gründlichkeit oft genug den Anschein von Niederträchtigkeit
annimmt, weil er glaubt, rechtfertigen zu müssen, was zu verschweigen er nicht
den Muth hat.

Diese Freiheit von allem Gründlichen und systematischen bewahrte Chateau¬
briand auch vor den Extravaganzen seiner deutschen Glaubensgenossen von der
historisch romantischen Schule. Der Vergleich des Staats mit den Pflanzen und
der Glauben an die Natnrwüchstgkeit des wahren Staates lag seiner Stellung
nahe genug, aber er kam uicht darauf, weil ihm überhaupt an einer dialektischen
Begründung seiner Einfälle nicht gelegen war. Auch hat er nicht, wie Adam
Müller, sonst sein politischer Zivi'llingsbruder, die "Kindlichkeit" geradezu zum


beabsichtigten Restauration des Christenthums, oder wenn man will, der Verkün¬
digung des neuen Evangeliums, die Glaubensgenossen Chateaubriand's.

Die Natur wurde von der damaligen Seurimentalität heimgesucht, weil sie
in ihrer Ursprünglichkeit über der Nothwendigkeit des Wechsels steht, welche die
geistigen Bestrebungen beherrscht; weil sie ferner keinen Sinn in sich selber trägt, son¬
dern sich den Experimenten der wechselnden Stimmung hingibt. Reizbare Gemü¬
ther können auch gegen einen Grashalm zärtlich sein, nur nicht gegen unzärtliche
Menschen. Mit der Natur kann mau spielen, wie mit den Kindern, dieses letzte
reelle Nachbild der Unschuld, wie sie in dem Paradiese gewesen war, bevor Eva
in den Apfel biß.

Bei diesem Interesse an der Natur und der damit zusammenhängenden Un¬
schuld darf man wohl fragen: wie verhielt sich Chateaubriand zu einem Hof, der
uuter deu Erinnerungen des O^it «Jo Kneuk, der liiüsnns it-in^ol-on««;« und der
Crebillonschen Romane groß geworden war? zu einem Hof, dessen ruchlosester
Prinz — Karl X,, zum Prorotyp der Legitimität erhoben war, zusammen mit der
heißblütigen Neapolitanerin, der Mutter des gottgesandten Knaben, dessen Wiege
Chateaubriand mit heiligem Wasser ans dem Jordan benetzte?

Die Frechheit, mit welcher der Dichter der Lucinde und seine Anhänger jeden
excentrischen Ausbruch eiues genialen Gemüths für Natur, und daher für Un¬
schuld ausgaben, konnten die Franzosen nicht nachahmen. Eine solche Art reflectirter
Frechheit verstieß gegen den guten Ton. Chateaubriand kam es zu Statten, daß
er Katholik war. Die Kirche hat einen weiten Liebesmautel für menschliche Schwä¬
chen, sie absolvirt und macht das Geschehene ungeschehen. Chateaubriand igno-
rirte, was nicht zu loben war, er war der Anwalt der schönen Sünderin, weil
er sein Verhältniß zu ihr symbolisch auffaßte: wie die Kutte den sündhafte» Prie¬
ster, so heiligte ihm die Majestät der Krone und die Majestät des Unglücks den
Träger, wie er auch sonst beschaffen sein mochte. Der Deutsche ist darin gewissen¬
hafter, der Franzose geht mit anständigen Achselzucken über Alles hinweg, was
nicht mehr zu ändern ist. Er erzählt in seiner Geschichte, was ihm paßt, das
Uevrige läßt er gehn; und darin beobachtet er den Anstand weit mehr als der
Deutsche, dessen Gründlichkeit oft genug den Anschein von Niederträchtigkeit
annimmt, weil er glaubt, rechtfertigen zu müssen, was zu verschweigen er nicht
den Muth hat.

Diese Freiheit von allem Gründlichen und systematischen bewahrte Chateau¬
briand auch vor den Extravaganzen seiner deutschen Glaubensgenossen von der
historisch romantischen Schule. Der Vergleich des Staats mit den Pflanzen und
der Glauben an die Natnrwüchstgkeit des wahren Staates lag seiner Stellung
nahe genug, aber er kam uicht darauf, weil ihm überhaupt an einer dialektischen
Begründung seiner Einfälle nicht gelegen war. Auch hat er nicht, wie Adam
Müller, sonst sein politischer Zivi'llingsbruder, die „Kindlichkeit" geradezu zum


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/277600"/>
          <p xml:id="ID_528" prev="#ID_527"> beabsichtigten Restauration des Christenthums, oder wenn man will, der Verkün¬<lb/>
digung des neuen Evangeliums, die Glaubensgenossen Chateaubriand's.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_529"> Die Natur wurde von der damaligen Seurimentalität heimgesucht, weil sie<lb/>
in ihrer Ursprünglichkeit über der Nothwendigkeit des Wechsels steht, welche die<lb/>
geistigen Bestrebungen beherrscht; weil sie ferner keinen Sinn in sich selber trägt, son¬<lb/>
dern sich den Experimenten der wechselnden Stimmung hingibt. Reizbare Gemü¬<lb/>
ther können auch gegen einen Grashalm zärtlich sein, nur nicht gegen unzärtliche<lb/>
Menschen. Mit der Natur kann mau spielen, wie mit den Kindern, dieses letzte<lb/>
reelle Nachbild der Unschuld, wie sie in dem Paradiese gewesen war, bevor Eva<lb/>
in den Apfel biß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_530"> Bei diesem Interesse an der Natur und der damit zusammenhängenden Un¬<lb/>
schuld darf man wohl fragen: wie verhielt sich Chateaubriand zu einem Hof, der<lb/>
uuter deu Erinnerungen des O^it «Jo Kneuk, der liiüsnns it-in^ol-on««;« und der<lb/>
Crebillonschen Romane groß geworden war? zu einem Hof, dessen ruchlosester<lb/>
Prinz &#x2014; Karl X,, zum Prorotyp der Legitimität erhoben war, zusammen mit der<lb/>
heißblütigen Neapolitanerin, der Mutter des gottgesandten Knaben, dessen Wiege<lb/>
Chateaubriand mit heiligem Wasser ans dem Jordan benetzte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_531"> Die Frechheit, mit welcher der Dichter der Lucinde und seine Anhänger jeden<lb/>
excentrischen Ausbruch eiues genialen Gemüths für Natur, und daher für Un¬<lb/>
schuld ausgaben, konnten die Franzosen nicht nachahmen. Eine solche Art reflectirter<lb/>
Frechheit verstieß gegen den guten Ton. Chateaubriand kam es zu Statten, daß<lb/>
er Katholik war. Die Kirche hat einen weiten Liebesmautel für menschliche Schwä¬<lb/>
chen, sie absolvirt und macht das Geschehene ungeschehen. Chateaubriand igno-<lb/>
rirte, was nicht zu loben war, er war der Anwalt der schönen Sünderin, weil<lb/>
er sein Verhältniß zu ihr symbolisch auffaßte: wie die Kutte den sündhafte» Prie¬<lb/>
ster, so heiligte ihm die Majestät der Krone und die Majestät des Unglücks den<lb/>
Träger, wie er auch sonst beschaffen sein mochte. Der Deutsche ist darin gewissen¬<lb/>
hafter, der Franzose geht mit anständigen Achselzucken über Alles hinweg, was<lb/>
nicht mehr zu ändern ist. Er erzählt in seiner Geschichte, was ihm paßt, das<lb/>
Uevrige läßt er gehn; und darin beobachtet er den Anstand weit mehr als der<lb/>
Deutsche, dessen Gründlichkeit oft genug den Anschein von Niederträchtigkeit<lb/>
annimmt, weil er glaubt, rechtfertigen zu müssen, was zu verschweigen er nicht<lb/>
den Muth hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_532" next="#ID_533"> Diese Freiheit von allem Gründlichen und systematischen bewahrte Chateau¬<lb/>
briand auch vor den Extravaganzen seiner deutschen Glaubensgenossen von der<lb/>
historisch romantischen Schule. Der Vergleich des Staats mit den Pflanzen und<lb/>
der Glauben an die Natnrwüchstgkeit des wahren Staates lag seiner Stellung<lb/>
nahe genug, aber er kam uicht darauf, weil ihm überhaupt an einer dialektischen<lb/>
Begründung seiner Einfälle nicht gelegen war. Auch hat er nicht, wie Adam<lb/>
Müller, sonst sein politischer Zivi'llingsbruder, die &#x201E;Kindlichkeit" geradezu zum</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] beabsichtigten Restauration des Christenthums, oder wenn man will, der Verkün¬ digung des neuen Evangeliums, die Glaubensgenossen Chateaubriand's. Die Natur wurde von der damaligen Seurimentalität heimgesucht, weil sie in ihrer Ursprünglichkeit über der Nothwendigkeit des Wechsels steht, welche die geistigen Bestrebungen beherrscht; weil sie ferner keinen Sinn in sich selber trägt, son¬ dern sich den Experimenten der wechselnden Stimmung hingibt. Reizbare Gemü¬ ther können auch gegen einen Grashalm zärtlich sein, nur nicht gegen unzärtliche Menschen. Mit der Natur kann mau spielen, wie mit den Kindern, dieses letzte reelle Nachbild der Unschuld, wie sie in dem Paradiese gewesen war, bevor Eva in den Apfel biß. Bei diesem Interesse an der Natur und der damit zusammenhängenden Un¬ schuld darf man wohl fragen: wie verhielt sich Chateaubriand zu einem Hof, der uuter deu Erinnerungen des O^it «Jo Kneuk, der liiüsnns it-in^ol-on««;« und der Crebillonschen Romane groß geworden war? zu einem Hof, dessen ruchlosester Prinz — Karl X,, zum Prorotyp der Legitimität erhoben war, zusammen mit der heißblütigen Neapolitanerin, der Mutter des gottgesandten Knaben, dessen Wiege Chateaubriand mit heiligem Wasser ans dem Jordan benetzte? Die Frechheit, mit welcher der Dichter der Lucinde und seine Anhänger jeden excentrischen Ausbruch eiues genialen Gemüths für Natur, und daher für Un¬ schuld ausgaben, konnten die Franzosen nicht nachahmen. Eine solche Art reflectirter Frechheit verstieß gegen den guten Ton. Chateaubriand kam es zu Statten, daß er Katholik war. Die Kirche hat einen weiten Liebesmautel für menschliche Schwä¬ chen, sie absolvirt und macht das Geschehene ungeschehen. Chateaubriand igno- rirte, was nicht zu loben war, er war der Anwalt der schönen Sünderin, weil er sein Verhältniß zu ihr symbolisch auffaßte: wie die Kutte den sündhafte» Prie¬ ster, so heiligte ihm die Majestät der Krone und die Majestät des Unglücks den Träger, wie er auch sonst beschaffen sein mochte. Der Deutsche ist darin gewissen¬ hafter, der Franzose geht mit anständigen Achselzucken über Alles hinweg, was nicht mehr zu ändern ist. Er erzählt in seiner Geschichte, was ihm paßt, das Uevrige läßt er gehn; und darin beobachtet er den Anstand weit mehr als der Deutsche, dessen Gründlichkeit oft genug den Anschein von Niederträchtigkeit annimmt, weil er glaubt, rechtfertigen zu müssen, was zu verschweigen er nicht den Muth hat. Diese Freiheit von allem Gründlichen und systematischen bewahrte Chateau¬ briand auch vor den Extravaganzen seiner deutschen Glaubensgenossen von der historisch romantischen Schule. Der Vergleich des Staats mit den Pflanzen und der Glauben an die Natnrwüchstgkeit des wahren Staates lag seiner Stellung nahe genug, aber er kam uicht darauf, weil ihm überhaupt an einer dialektischen Begründung seiner Einfälle nicht gelegen war. Auch hat er nicht, wie Adam Müller, sonst sein politischer Zivi'llingsbruder, die „Kindlichkeit" geradezu zum

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/170>, abgerufen am 22.07.2024.