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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Post "ymtem """Ist atra ours,

d. h. auch in den Ziegenstall dringt der Pesthauch der Gesellschaft. Auch dem
nach der Regel der Natur erzogenen Emil bleibt nichts anders übrig, als den
Robinson zu studiren, sich in seine Zustände zu versetzen, d. h. weiter zu träumen,
im Ziegenstall wie im Salon, wo er es aber bequemer gehabt hätte. Die "neue
Heloise" verfällt eben so, trotz aller Natur, der Kritik der Gesellschaft, die nicht
außer ihr steht, sondern die sie in ihrem eigenen Gewissen trägt. Endlich der auf
den Trümmern der bisherigen politischen Lüge neu zu errichtende Urstaat trägt
in sich selbst den Keim der Verderbniß: so klein er auch sei, der Eine ist doch
klüger, sinnlicher, stärker als der Andere und keine chinesische Mauer würde das
Miasma der Cultur, das aus der nicht urstaatlich eingerichteten übrigen Welt zu
ihm hinüberweht, von ihm abhalten.

Die naive Sentimentalität kann trotz aller Anspannung der Phantasie eine
innere Befriedigung nicht erreichen, weil sie zu wahr ist, um nicht ihre Unwahr¬
heit zu fühlen, wenigstens zu ahnen. Die reflectirte Sentimentalität macht sichs
bequemer. Sie verlegt den Schauplatz ihrer Träume halb an die Quellen des Sus-
quehannah, halb an die heiligen Stätten, wo der Erlöser gewandelt -- dort die
unreife, aber reine Natur, hier Gott in höchsteigner Person; ein Zusammenstoß
beider, und die vollkommene Welt sprüht wie ein electrischer Funke hervor. Um
in dieses Reich der Zufriedenheit einzugehen, muß man den Muth haben, sich
bewußte Illusion zu machen. Diesen Muth hatte die Romantik, wie sie im Genie
du Christianisme sich ausdrückt.

Die Sehnsucht nach dem "Ursprünglichen," in dem es keinen Contrast gibt,
ist die Flucht der Urkraft aus der Bewegung des Lebens, die sie nicht begreift
und deren sie nicht Herr werden kann. Werther ist das classische Product dieser
Empfindsamkeit; er weiß den Contrast nicht anders zu lösen, als dnrch das bru¬
tale Mittel einer Pistolenkugel.

Armes Herz! es war dann auch wohl der Mühe werth zu schlagen! -- Dieses
fieberhafte Haschen nach der Natur geht übrigens durch das ganze 18. Jahrhun¬
dert. Swift und de Foe sind die Väter dieser Romantik; Gulliver findet
bei Riesen und Zwergen das klägliche Abbild der eigenen verkehrten Zustände,
bis er endlich entdeckt, daß die Menschen zum Affengeschlecht gehören und daß
die echte Tugend sich nur bei den Pferden vorfindet. Andere Naturschwindler
haben eine weniger pferdemäßige Phantasie; sie suchten entweder das Paradies
im Monde, wohin die Seele nach mancher Wanderung kommen sollte oder im
Schmutz eines Hottentottenkraals wie der ehrliche le Vaillant, oder bei dem tat-


Post «ymtem ««»Ist atra ours,

d. h. auch in den Ziegenstall dringt der Pesthauch der Gesellschaft. Auch dem
nach der Regel der Natur erzogenen Emil bleibt nichts anders übrig, als den
Robinson zu studiren, sich in seine Zustände zu versetzen, d. h. weiter zu träumen,
im Ziegenstall wie im Salon, wo er es aber bequemer gehabt hätte. Die „neue
Heloise" verfällt eben so, trotz aller Natur, der Kritik der Gesellschaft, die nicht
außer ihr steht, sondern die sie in ihrem eigenen Gewissen trägt. Endlich der auf
den Trümmern der bisherigen politischen Lüge neu zu errichtende Urstaat trägt
in sich selbst den Keim der Verderbniß: so klein er auch sei, der Eine ist doch
klüger, sinnlicher, stärker als der Andere und keine chinesische Mauer würde das
Miasma der Cultur, das aus der nicht urstaatlich eingerichteten übrigen Welt zu
ihm hinüberweht, von ihm abhalten.

Die naive Sentimentalität kann trotz aller Anspannung der Phantasie eine
innere Befriedigung nicht erreichen, weil sie zu wahr ist, um nicht ihre Unwahr¬
heit zu fühlen, wenigstens zu ahnen. Die reflectirte Sentimentalität macht sichs
bequemer. Sie verlegt den Schauplatz ihrer Träume halb an die Quellen des Sus-
quehannah, halb an die heiligen Stätten, wo der Erlöser gewandelt — dort die
unreife, aber reine Natur, hier Gott in höchsteigner Person; ein Zusammenstoß
beider, und die vollkommene Welt sprüht wie ein electrischer Funke hervor. Um
in dieses Reich der Zufriedenheit einzugehen, muß man den Muth haben, sich
bewußte Illusion zu machen. Diesen Muth hatte die Romantik, wie sie im Genie
du Christianisme sich ausdrückt.

Die Sehnsucht nach dem „Ursprünglichen," in dem es keinen Contrast gibt,
ist die Flucht der Urkraft aus der Bewegung des Lebens, die sie nicht begreift
und deren sie nicht Herr werden kann. Werther ist das classische Product dieser
Empfindsamkeit; er weiß den Contrast nicht anders zu lösen, als dnrch das bru¬
tale Mittel einer Pistolenkugel.

Armes Herz! es war dann auch wohl der Mühe werth zu schlagen! — Dieses
fieberhafte Haschen nach der Natur geht übrigens durch das ganze 18. Jahrhun¬
dert. Swift und de Foe sind die Väter dieser Romantik; Gulliver findet
bei Riesen und Zwergen das klägliche Abbild der eigenen verkehrten Zustände,
bis er endlich entdeckt, daß die Menschen zum Affengeschlecht gehören und daß
die echte Tugend sich nur bei den Pferden vorfindet. Andere Naturschwindler
haben eine weniger pferdemäßige Phantasie; sie suchten entweder das Paradies
im Monde, wohin die Seele nach mancher Wanderung kommen sollte oder im
Schmutz eines Hottentottenkraals wie der ehrliche le Vaillant, oder bei dem tat-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/168>, abgerufen am 22.07.2024.