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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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eine sein goldenes Zeitalter in die höfische Tracht arkadischer Schäfer, oder was
dasselbe sagen will, zierlich ausstaffirter Wilden-Masken kleidet, während der an¬
dere mehr die concreten Gegenstände des bürgerlichen Entzückens: den Kaiser und
seine Schlachten, die Pariser Griiette und den guten Wein von Burgund in Aus¬
sicht behält. Der zweite Unterschied ist, daß der König der Chansonniers das
Bewußtsein hatte, seine politische Lyrik wäre eine unschuldige Faselei; er hat
seine Stellung unter den Volksbeglückern sehr ernsthaft aufgeschlagen, während
der ritterliche Champion mittelalterlicher Zustände Träumer genug war, seine
Träumereien in das wirkliche Leben zu übertragen und daß er mit dem Hochge¬
fühl eines verkannten und unbegriffenen Märtyrers von bannen ging.

Wenn wir Chateaubriand an eine Erscheinung der frühern französischen Lite¬
ratur anknüpfen wollen, so ist es unstreitig Rousseau. Zu diesem verhält er
sich ungefähr wie die Scblegelsche Schule zu den Poeten der Sturm- und Drang¬
periode. Rousseau war die naive Sentimentalität, Chateaubriand die reflectirte.

Das war bei feingestimmter Seelen der Zopfzeit eine so triviale Idee, daß
der Chor in der Braut von Messina es so obenhin äußerte, ohne viel Gewicht
darauf zu legen. Neben der Opposition des Verstandes gegen den lügenhaften
Zustand der Gesellschaft, die nicht einmal den Bäumen und Haaren eine freie
Entwickelung verstattete, geschweige denn dem Drang des Genius, ging die Em¬
pörung des Herzens. Das Herz konnte sich in die Welt nicht finden, da es sich
aber -- unsicher, wie es in sich selber war -- an etwas Positives halten mußte,
so träumte es sich sein eigenes Ideal zusammen und nannte dieses Ideal Natur.
Es ist rührend, mit welcher innigen Verwunderung Rousseau in seinen Träumen
dies überall vergebens gesuchte gelobte Land in der nnmwelbarsten Nähe entdeckt.
Er zergliedert in den Confessions sein eigenes Leben, das sich im Streben nach der
Tugend , nach dem Guten vermehrte -- und siehe da, wenn er seine eignen, rohen
Sliimnnngen, die vou dem Gesetz der Welt geächteten Regnnge" seiner Seele analysirt,
s" bat er in ihnen das Gute selbst -- denn die Natur ist immer gut, sie ist von Gott,
die Cultur dagegen schlecht, denn sie gehört den Menschen an. Darum zur Natur
Zurück! Die Erziehung von euch geworfen! die Kinder müssen nach der Analogie
'"'schuldig hüpfender Ziegen aufwuchsen! -- so die Lehre des Emile. Den künst¬
lichen Organismus der Staaten zertrümmert und zurück zur sogenannten Barbarei
^ dem einfachen Gemeindewesen, das sich um die große Welt nicht schiert. So
der txnu>-!et iuiLi-ri. Nur daß es in dieser erträumten Natur doch unheimlich
a"M). Rousseau mochte "natürlich" suhlen, soviel er wollte, die Krankheit "e-
sellschastlicher Rücksichten steckte einmal in seinem Blut; er konnte damit das Ge¬
spenst der Wirklichkeit uicht los werden, und war daher nicht nur mit der "Welr,"
sondern mit sich selber in beständigem Conflict, bis zum Selbstmord hin.


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eine sein goldenes Zeitalter in die höfische Tracht arkadischer Schäfer, oder was
dasselbe sagen will, zierlich ausstaffirter Wilden-Masken kleidet, während der an¬
dere mehr die concreten Gegenstände des bürgerlichen Entzückens: den Kaiser und
seine Schlachten, die Pariser Griiette und den guten Wein von Burgund in Aus¬
sicht behält. Der zweite Unterschied ist, daß der König der Chansonniers das
Bewußtsein hatte, seine politische Lyrik wäre eine unschuldige Faselei; er hat
seine Stellung unter den Volksbeglückern sehr ernsthaft aufgeschlagen, während
der ritterliche Champion mittelalterlicher Zustände Träumer genug war, seine
Träumereien in das wirkliche Leben zu übertragen und daß er mit dem Hochge¬
fühl eines verkannten und unbegriffenen Märtyrers von bannen ging.

Wenn wir Chateaubriand an eine Erscheinung der frühern französischen Lite¬
ratur anknüpfen wollen, so ist es unstreitig Rousseau. Zu diesem verhält er
sich ungefähr wie die Scblegelsche Schule zu den Poeten der Sturm- und Drang¬
periode. Rousseau war die naive Sentimentalität, Chateaubriand die reflectirte.

Das war bei feingestimmter Seelen der Zopfzeit eine so triviale Idee, daß
der Chor in der Braut von Messina es so obenhin äußerte, ohne viel Gewicht
darauf zu legen. Neben der Opposition des Verstandes gegen den lügenhaften
Zustand der Gesellschaft, die nicht einmal den Bäumen und Haaren eine freie
Entwickelung verstattete, geschweige denn dem Drang des Genius, ging die Em¬
pörung des Herzens. Das Herz konnte sich in die Welt nicht finden, da es sich
aber — unsicher, wie es in sich selber war — an etwas Positives halten mußte,
so träumte es sich sein eigenes Ideal zusammen und nannte dieses Ideal Natur.
Es ist rührend, mit welcher innigen Verwunderung Rousseau in seinen Träumen
dies überall vergebens gesuchte gelobte Land in der nnmwelbarsten Nähe entdeckt.
Er zergliedert in den Confessions sein eigenes Leben, das sich im Streben nach der
Tugend , nach dem Guten vermehrte — und siehe da, wenn er seine eignen, rohen
Sliimnnngen, die vou dem Gesetz der Welt geächteten Regnnge» seiner Seele analysirt,
s» bat er in ihnen das Gute selbst -- denn die Natur ist immer gut, sie ist von Gott,
die Cultur dagegen schlecht, denn sie gehört den Menschen an. Darum zur Natur
Zurück! Die Erziehung von euch geworfen! die Kinder müssen nach der Analogie
'"'schuldig hüpfender Ziegen aufwuchsen! — so die Lehre des Emile. Den künst¬
lichen Organismus der Staaten zertrümmert und zurück zur sogenannten Barbarei
^ dem einfachen Gemeindewesen, das sich um die große Welt nicht schiert. So
der txnu>-!et iuiLi-ri. Nur daß es in dieser erträumten Natur doch unheimlich
a"M). Rousseau mochte „natürlich" suhlen, soviel er wollte, die Krankheit «e-
sellschastlicher Rücksichten steckte einmal in seinem Blut; er konnte damit das Ge¬
spenst der Wirklichkeit uicht los werden, und war daher nicht nur mit der „Welr,"
sondern mit sich selber in beständigem Conflict, bis zum Selbstmord hin.


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[0167] eine sein goldenes Zeitalter in die höfische Tracht arkadischer Schäfer, oder was dasselbe sagen will, zierlich ausstaffirter Wilden-Masken kleidet, während der an¬ dere mehr die concreten Gegenstände des bürgerlichen Entzückens: den Kaiser und seine Schlachten, die Pariser Griiette und den guten Wein von Burgund in Aus¬ sicht behält. Der zweite Unterschied ist, daß der König der Chansonniers das Bewußtsein hatte, seine politische Lyrik wäre eine unschuldige Faselei; er hat seine Stellung unter den Volksbeglückern sehr ernsthaft aufgeschlagen, während der ritterliche Champion mittelalterlicher Zustände Träumer genug war, seine Träumereien in das wirkliche Leben zu übertragen und daß er mit dem Hochge¬ fühl eines verkannten und unbegriffenen Märtyrers von bannen ging. Wenn wir Chateaubriand an eine Erscheinung der frühern französischen Lite¬ ratur anknüpfen wollen, so ist es unstreitig Rousseau. Zu diesem verhält er sich ungefähr wie die Scblegelsche Schule zu den Poeten der Sturm- und Drang¬ periode. Rousseau war die naive Sentimentalität, Chateaubriand die reflectirte. Das war bei feingestimmter Seelen der Zopfzeit eine so triviale Idee, daß der Chor in der Braut von Messina es so obenhin äußerte, ohne viel Gewicht darauf zu legen. Neben der Opposition des Verstandes gegen den lügenhaften Zustand der Gesellschaft, die nicht einmal den Bäumen und Haaren eine freie Entwickelung verstattete, geschweige denn dem Drang des Genius, ging die Em¬ pörung des Herzens. Das Herz konnte sich in die Welt nicht finden, da es sich aber — unsicher, wie es in sich selber war — an etwas Positives halten mußte, so träumte es sich sein eigenes Ideal zusammen und nannte dieses Ideal Natur. Es ist rührend, mit welcher innigen Verwunderung Rousseau in seinen Träumen dies überall vergebens gesuchte gelobte Land in der nnmwelbarsten Nähe entdeckt. Er zergliedert in den Confessions sein eigenes Leben, das sich im Streben nach der Tugend , nach dem Guten vermehrte — und siehe da, wenn er seine eignen, rohen Sliimnnngen, die vou dem Gesetz der Welt geächteten Regnnge» seiner Seele analysirt, s» bat er in ihnen das Gute selbst -- denn die Natur ist immer gut, sie ist von Gott, die Cultur dagegen schlecht, denn sie gehört den Menschen an. Darum zur Natur Zurück! Die Erziehung von euch geworfen! die Kinder müssen nach der Analogie '"'schuldig hüpfender Ziegen aufwuchsen! — so die Lehre des Emile. Den künst¬ lichen Organismus der Staaten zertrümmert und zurück zur sogenannten Barbarei ^ dem einfachen Gemeindewesen, das sich um die große Welt nicht schiert. So der txnu>-!et iuiLi-ri. Nur daß es in dieser erträumten Natur doch unheimlich a"M). Rousseau mochte „natürlich" suhlen, soviel er wollte, die Krankheit «e- sellschastlicher Rücksichten steckte einmal in seinem Blut; er konnte damit das Ge¬ spenst der Wirklichkeit uicht los werden, und war daher nicht nur mit der „Welr," sondern mit sich selber in beständigem Conflict, bis zum Selbstmord hin. 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/167>, abgerufen am 22.07.2024.