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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Vermögen, die besten Kräfte, den verständigen Vortheil einer vorübergehenden
Laune der besitzlosen und unverständigen Masse opfern wird, kann er bei der Wahl
von Kammerdeputirten sich gar nicht realisiren. Es ist nicht wahr, daß selbst di¬
rekte Wahlen eine Bürgschaft geben, daß die herrschende Meinung des Volks durch
die Mehrzahl der Deputirten dargestellt werde. Abgesehen von aller demagogi¬
schen Charlatanerie, die solche Wahlen fast immer begleitet, abgesehen davon, daß
die Deputirten an Aufträge und die Politik ihrer Wähler nicht gebunden sind,
ist auch statistisch zu beweisen, daß das allgemeine Wahlrecht ein sehr schlechtes
Mittel ist, den Willen der Mehrheit zum Gesetz zu machen. Gesetzt in einem
Land wählen 120,000 Wähler in 12 Wahlkreisen, also für 12 Deputirte, davon
wollen 75,000 einen König, 45,000 aber zwei Könige, die überwiegende Majo¬
rität ist aber folgendermaßen vertheilt, in 5 Wahldistrikten, (z. B. den großen
Städten, weil dort die meiste Intelligenz ist) hat sie je 9000, in den übrigen
7 Wahldistrikten je 4000 - - 4500 Parteigenossen, so wird sie nur in 5 Wahlkrei¬
sen die Majorität durchsetzen, und das Land wird dnrch Miuoritätswahlen regiert,
also hier nach dem Wunsch von nicht viel mehr als '/,, seiner Einwohner zwei Kö¬
nige erhalten. Die Sache ist seit den Zeiten des Konvents bekannt, und das
angeführte Beispiel grade so roh, als dieser jetzt ersehnte Wahlmodus, wobei zu
bemerke", daß bei indirekten Wahlen das Resultat sich noch komischer stellt. Aber
richtig ist das Beispiel doch, und es mußte hier angeführt werden, um zu zeigen,
wie wenig damit gewonnen sei, wenn man das Stimmrecht auf alle Einzelnen
überträgt und diese nach der Schnur in Wahlkreise zusammenwirft. Das heißt
nicht das Volk, sondern die Willkür, den Zufall, die unberechtigten Stimmungen
der Einzelnen zur Herrschaft bringen. Das Individuum darf seine höchsten po¬
litischen Rechte nur in seinem staatlichen Zusammenhange mit andern, in seiner
Organisation besitzen. Das nicht organisirte Einzelne mit seinem subjektiven Em¬
pfinden , Erkennen, Wollen hat dem Staat gegenüber keine politische Berechtigung,
er muß ihm Theil einer freien Gemeinde werden, in welcher sein Leben Geltung,
Kraft und Würde erlangt. Die Gemeinde ist die erste Einheit in der Sphäre
des Staatslebens, in welcher das allgemein Menschliche zur Erscheinung kommt,
nicht als abstrackte Formel, sondern in einer Fülle von individuellem Leben.

Wem das Gesagte als eine Theorie erscheint, die, wie es auch um ihre Be¬
rechtigung stehe, bei der gegenwärtigen Strömung des Vvlkswillcns nicht ausführ¬
bar ist, der wird denselben Vorwurf dem Folgenden nicht machen können. Es soll
uns freuen, wenn er eine ziemliche Kenntniß unseres Volks und feiner Verhält¬
nisse heraus liest. Die Grenzboten gehören zu der kleinen Partei deutscher De¬
mokraten, welche den Kampf der Gegenwart betrachten als den ersten Anfang
einer Kette gesetzlicher Reformen, welche sich allmälig aus einander entwickeln
und das gesammte der Nation umformen werden, sie sind voll Muth und Hoff-


Vermögen, die besten Kräfte, den verständigen Vortheil einer vorübergehenden
Laune der besitzlosen und unverständigen Masse opfern wird, kann er bei der Wahl
von Kammerdeputirten sich gar nicht realisiren. Es ist nicht wahr, daß selbst di¬
rekte Wahlen eine Bürgschaft geben, daß die herrschende Meinung des Volks durch
die Mehrzahl der Deputirten dargestellt werde. Abgesehen von aller demagogi¬
schen Charlatanerie, die solche Wahlen fast immer begleitet, abgesehen davon, daß
die Deputirten an Aufträge und die Politik ihrer Wähler nicht gebunden sind,
ist auch statistisch zu beweisen, daß das allgemeine Wahlrecht ein sehr schlechtes
Mittel ist, den Willen der Mehrheit zum Gesetz zu machen. Gesetzt in einem
Land wählen 120,000 Wähler in 12 Wahlkreisen, also für 12 Deputirte, davon
wollen 75,000 einen König, 45,000 aber zwei Könige, die überwiegende Majo¬
rität ist aber folgendermaßen vertheilt, in 5 Wahldistrikten, (z. B. den großen
Städten, weil dort die meiste Intelligenz ist) hat sie je 9000, in den übrigen
7 Wahldistrikten je 4000 - - 4500 Parteigenossen, so wird sie nur in 5 Wahlkrei¬
sen die Majorität durchsetzen, und das Land wird dnrch Miuoritätswahlen regiert,
also hier nach dem Wunsch von nicht viel mehr als '/,, seiner Einwohner zwei Kö¬
nige erhalten. Die Sache ist seit den Zeiten des Konvents bekannt, und das
angeführte Beispiel grade so roh, als dieser jetzt ersehnte Wahlmodus, wobei zu
bemerke», daß bei indirekten Wahlen das Resultat sich noch komischer stellt. Aber
richtig ist das Beispiel doch, und es mußte hier angeführt werden, um zu zeigen,
wie wenig damit gewonnen sei, wenn man das Stimmrecht auf alle Einzelnen
überträgt und diese nach der Schnur in Wahlkreise zusammenwirft. Das heißt
nicht das Volk, sondern die Willkür, den Zufall, die unberechtigten Stimmungen
der Einzelnen zur Herrschaft bringen. Das Individuum darf seine höchsten po¬
litischen Rechte nur in seinem staatlichen Zusammenhange mit andern, in seiner
Organisation besitzen. Das nicht organisirte Einzelne mit seinem subjektiven Em¬
pfinden , Erkennen, Wollen hat dem Staat gegenüber keine politische Berechtigung,
er muß ihm Theil einer freien Gemeinde werden, in welcher sein Leben Geltung,
Kraft und Würde erlangt. Die Gemeinde ist die erste Einheit in der Sphäre
des Staatslebens, in welcher das allgemein Menschliche zur Erscheinung kommt,
nicht als abstrackte Formel, sondern in einer Fülle von individuellem Leben.

Wem das Gesagte als eine Theorie erscheint, die, wie es auch um ihre Be¬
rechtigung stehe, bei der gegenwärtigen Strömung des Vvlkswillcns nicht ausführ¬
bar ist, der wird denselben Vorwurf dem Folgenden nicht machen können. Es soll
uns freuen, wenn er eine ziemliche Kenntniß unseres Volks und feiner Verhält¬
nisse heraus liest. Die Grenzboten gehören zu der kleinen Partei deutscher De¬
mokraten, welche den Kampf der Gegenwart betrachten als den ersten Anfang
einer Kette gesetzlicher Reformen, welche sich allmälig aus einander entwickeln
und das gesammte der Nation umformen werden, sie sind voll Muth und Hoff-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/69>, abgerufen am 01.07.2024.