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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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bilden; sie sollen nur Provinzen sein, freilich mit möglichst selbstständiger Admi¬
nistration; dann ist die strenge Scheidung nach Nationalitäten schon aus geogra¬
phischen Gründen unmöglich, abgesehn davon, daß es nicht blos auf Gleichheit
der Sprache, sondern anch auf sittlich-politische Gemeinsamkeit, auf geschichtliche
Grundlage ankommt. Die Sachsen z. B. in Siebenbürgen haben das Recht, die
Aufrechthaltung ihrer Selbstständigkeit zu fordern, denn sie bilden ein wirkliches
politisches Ganze, das die erfreulichste Hoffnung gibt; den Deutschen aber in Böh¬
men -- als Ganzes betrachtet -- geht alle Lebensfähigkeit ab: womit ich
übrigens der Berechtigung einzelner deutsch-böhmischen Kreise zu einer selbststän¬
digen Organisation nicht im Geringsten zu nahe treten will. Indessen über diese
Differenzen würde man hinauskommen, wenn nur von allen Seiten das ernste
Streben einer Verständigung festgehalten wird.

Mißlicher aber ist die Lage des Reichstags in Bezug auf die bisher nicht
vertretenen Provinzen des Gesammtstaats. Daß die deutsch - slavischen Neben¬
länder Ungarns in die neue Staatsorganisation aufgenommen werden müssen, ver¬
steht sich von selbst, das war ja der Zweck ihres Aufstandes zu Gunsten des
Kaiserstaats. Ungarn selbst aber muß herangezogen und mit Italien die Vereini¬
gung wenigstens angebahnt werden. Wie darf nun der Reichstag ein Grundgesetz
berathen, welches für Provinzen seine Anwendung finden soll, die ihre Stimme
gar nicht abgeben können?

Diesem Uebelstand abzuhelfen, gibt es drei Wege. Entweder man löst den
Reichstag auf und beruft einen neuen, der von allen Provinzen beschickt werden
muß. In diesem Fall würde bei dem gegenwärtigen Kriegszustand in den unga¬
rischen Provinzen die Constituirung des Reichs auf das Unbestimmte hinaus ver¬
zögert. Oder man ergänzt den bisherigen Reichstag durch allmälige Einberufung
der übrigen Provinzen. Das hätte den Uebelstand, daß sich keine compacte Ma¬
jorität bilden könnte. Oder man stellt mit dem gegenwärtigen Reichstag nur die
allgemeinen Grundsätze der Verfassung fest und octroyirt dann dieselbe für den
Gesammtstaat, wobei mau die weitere Ausbildung dem rechtlichen, legislativen
Wege überläßt.

Den letztern Weg scheint man einschlagen zu wollen, und er ist allerdings
der einfachste; nur wäre es zweckmäßig gewesen, wenn sich auch über diese wichtige
Frage die Regierung ebenso unumwunden ausgesprochen hätte, als über die an¬
deren Punkte. An eine spätere Annexation der übrigen Landestheile an den bereits
organistrten Staat Oestreich-Galizien nach Art der nordamerikanischen Einverlei¬
bung von Texas ist deshalb nicht zu denken, weil Ungarn, Kroatien, Slavonien
u. s. w. unter sich nie über die Modalität einer solchen Einverleibung einig wer¬
den würden. --'

Das Verhältniß der Regierung zu den Gemeinden bedarf ebenso einer schnellen


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bilden; sie sollen nur Provinzen sein, freilich mit möglichst selbstständiger Admi¬
nistration; dann ist die strenge Scheidung nach Nationalitäten schon aus geogra¬
phischen Gründen unmöglich, abgesehn davon, daß es nicht blos auf Gleichheit
der Sprache, sondern anch auf sittlich-politische Gemeinsamkeit, auf geschichtliche
Grundlage ankommt. Die Sachsen z. B. in Siebenbürgen haben das Recht, die
Aufrechthaltung ihrer Selbstständigkeit zu fordern, denn sie bilden ein wirkliches
politisches Ganze, das die erfreulichste Hoffnung gibt; den Deutschen aber in Böh¬
men — als Ganzes betrachtet — geht alle Lebensfähigkeit ab: womit ich
übrigens der Berechtigung einzelner deutsch-böhmischen Kreise zu einer selbststän¬
digen Organisation nicht im Geringsten zu nahe treten will. Indessen über diese
Differenzen würde man hinauskommen, wenn nur von allen Seiten das ernste
Streben einer Verständigung festgehalten wird.

Mißlicher aber ist die Lage des Reichstags in Bezug auf die bisher nicht
vertretenen Provinzen des Gesammtstaats. Daß die deutsch - slavischen Neben¬
länder Ungarns in die neue Staatsorganisation aufgenommen werden müssen, ver¬
steht sich von selbst, das war ja der Zweck ihres Aufstandes zu Gunsten des
Kaiserstaats. Ungarn selbst aber muß herangezogen und mit Italien die Vereini¬
gung wenigstens angebahnt werden. Wie darf nun der Reichstag ein Grundgesetz
berathen, welches für Provinzen seine Anwendung finden soll, die ihre Stimme
gar nicht abgeben können?

Diesem Uebelstand abzuhelfen, gibt es drei Wege. Entweder man löst den
Reichstag auf und beruft einen neuen, der von allen Provinzen beschickt werden
muß. In diesem Fall würde bei dem gegenwärtigen Kriegszustand in den unga¬
rischen Provinzen die Constituirung des Reichs auf das Unbestimmte hinaus ver¬
zögert. Oder man ergänzt den bisherigen Reichstag durch allmälige Einberufung
der übrigen Provinzen. Das hätte den Uebelstand, daß sich keine compacte Ma¬
jorität bilden könnte. Oder man stellt mit dem gegenwärtigen Reichstag nur die
allgemeinen Grundsätze der Verfassung fest und octroyirt dann dieselbe für den
Gesammtstaat, wobei mau die weitere Ausbildung dem rechtlichen, legislativen
Wege überläßt.

Den letztern Weg scheint man einschlagen zu wollen, und er ist allerdings
der einfachste; nur wäre es zweckmäßig gewesen, wenn sich auch über diese wichtige
Frage die Regierung ebenso unumwunden ausgesprochen hätte, als über die an¬
deren Punkte. An eine spätere Annexation der übrigen Landestheile an den bereits
organistrten Staat Oestreich-Galizien nach Art der nordamerikanischen Einverlei¬
bung von Texas ist deshalb nicht zu denken, weil Ungarn, Kroatien, Slavonien
u. s. w. unter sich nie über die Modalität einer solchen Einverleibung einig wer¬
den würden. —'

Das Verhältniß der Regierung zu den Gemeinden bedarf ebenso einer schnellen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/407>, abgerufen am 01.07.2024.