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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Gegenden Deutschlands, fast eben so stark aber auch das Gefühl gemeinsam durch¬
lebter Geschichte einzelner kleiner Landstriche, die seit undenklichen Zeiten bis zu
den letzten großen Territorialänderungen im Beginne des Jahrhunderts stets zu
einem politischen Ganzen verbunden waren, und erst seit jener Zeit entweder unter
verschiedene Herren vertheilt oder einem größeren Staat einverleibt worden sind,
würden jene Anziehungskraft der natürlichen Centren fast überall Paralysiren. Es
wäre ein unerträgliches Hingezogen - und Abgestoßenwerdeu, bei welchem die ganze
Existenz der Nation auf dem Spiel stände. -- Man steht, meine ich, trotz aller
heftigen Klagen über Separatismus und Particularismus, doch uoch immer die
Sache in allzu mildem Lichte. Es ist ganz unglaublich, welcher Kantauligeifl in
uns steckt. Nicht sowohl in den Regierungen, als in den Völkern, denn durch
diese ist er erst in jene gekommen oder wird wenigstens dort gestützt. Ließe man
der Masse erst freie Hand, es würde sich jedes Städtchen mit Zollmauern um¬
geben, alle Fremden sorgfältiger, als die alten Aegypter oder die jetzigen Chinesen
von sich fernhalten und schleunigst eine mikrokosmische Staatskomödie mit "Heer,"
"Finanzen," "auswärtigen Departements" bei sich aufführen, und dabei immer
noch in aller Naivität von dem deutschen Vaterlande singen. Wer Augen hat zu
fehen und Ohren zu hören, weiß, wie es schon in diesem Augenblicke damit geht.
Jetzt sind noch die reactionären Regierungen die Sündenböcke, aber ist es nicht
das freisinnige Volk, was den anhält-bernburger Landtag zu sechswöchentlicher
Berathung der Grundrechte des anhält-bernburger Volks zwingt, oder die Negie¬
rung zu Gera nöthigt, dies Ländchen reichsunmittelbar, d. h. selbstständig zu er"
klären, nur um es nicht von der Karte verschwinden zu lassen?

Herr v. Vincke hat somit ganz recht: für den Spießbürger gibt es heut zu
Tage noch 38 deutsche Völkerschaften. Diese Thatsache kann alles Schreien und
Toben der Linken nicht vernichten. Nur ist der Ausdruck Völkerschaft etwas un¬
geschickt gewählt, weil man ihn leicht mit jener mystischen Stammeseigenthümlich¬
keit verwechseln kann, womit er doch gar nichts zu schaffen hat. Denn, ich wie¬
derhole es noch einmal, kein einziger der jetzigen deutschen Staaten hat in diesem
Principe seine Wurzel. Ja es geht so weit, daß es nur sehr wenige und sehr
kleine, mit bloßen Augen auf der Karte kaum sichtbare gibt, die nicht aus Trüm¬
mern und Abschnitzeln mehrerer Stämme zusammengesetzt wären. So hat z. B.
selbst das ganz kleine Herzogthum Meiningen unter seinem kaum 140,000 Einwoh¬
nern Sprößlinge der alten Franken nud der uicht weniger alten und berühmten
Thüringer. Ebenso das Kurfürstenthum Hessen, das anßer den eigentlichen Hessen
uoch Sachsen und Franken enthält. Der größeren Staaten ganz zu geschweigen,
von denen z. B. Baiern Theile des fränkischen, schwäbischen und bairischen Stam¬
mes , Preußen von allen niederdeutschen und einigen hochdeutschen enthält. Will
man also a tout prix von einem königlichen bairischen Volksbewußtsein sprechen,
so stelle man sich, um bei sich und bei andern die Confusion zu vermeiden, doch


Gegenden Deutschlands, fast eben so stark aber auch das Gefühl gemeinsam durch¬
lebter Geschichte einzelner kleiner Landstriche, die seit undenklichen Zeiten bis zu
den letzten großen Territorialänderungen im Beginne des Jahrhunderts stets zu
einem politischen Ganzen verbunden waren, und erst seit jener Zeit entweder unter
verschiedene Herren vertheilt oder einem größeren Staat einverleibt worden sind,
würden jene Anziehungskraft der natürlichen Centren fast überall Paralysiren. Es
wäre ein unerträgliches Hingezogen - und Abgestoßenwerdeu, bei welchem die ganze
Existenz der Nation auf dem Spiel stände. — Man steht, meine ich, trotz aller
heftigen Klagen über Separatismus und Particularismus, doch uoch immer die
Sache in allzu mildem Lichte. Es ist ganz unglaublich, welcher Kantauligeifl in
uns steckt. Nicht sowohl in den Regierungen, als in den Völkern, denn durch
diese ist er erst in jene gekommen oder wird wenigstens dort gestützt. Ließe man
der Masse erst freie Hand, es würde sich jedes Städtchen mit Zollmauern um¬
geben, alle Fremden sorgfältiger, als die alten Aegypter oder die jetzigen Chinesen
von sich fernhalten und schleunigst eine mikrokosmische Staatskomödie mit „Heer,"
„Finanzen," „auswärtigen Departements" bei sich aufführen, und dabei immer
noch in aller Naivität von dem deutschen Vaterlande singen. Wer Augen hat zu
fehen und Ohren zu hören, weiß, wie es schon in diesem Augenblicke damit geht.
Jetzt sind noch die reactionären Regierungen die Sündenböcke, aber ist es nicht
das freisinnige Volk, was den anhält-bernburger Landtag zu sechswöchentlicher
Berathung der Grundrechte des anhält-bernburger Volks zwingt, oder die Negie¬
rung zu Gera nöthigt, dies Ländchen reichsunmittelbar, d. h. selbstständig zu er«
klären, nur um es nicht von der Karte verschwinden zu lassen?

Herr v. Vincke hat somit ganz recht: für den Spießbürger gibt es heut zu
Tage noch 38 deutsche Völkerschaften. Diese Thatsache kann alles Schreien und
Toben der Linken nicht vernichten. Nur ist der Ausdruck Völkerschaft etwas un¬
geschickt gewählt, weil man ihn leicht mit jener mystischen Stammeseigenthümlich¬
keit verwechseln kann, womit er doch gar nichts zu schaffen hat. Denn, ich wie¬
derhole es noch einmal, kein einziger der jetzigen deutschen Staaten hat in diesem
Principe seine Wurzel. Ja es geht so weit, daß es nur sehr wenige und sehr
kleine, mit bloßen Augen auf der Karte kaum sichtbare gibt, die nicht aus Trüm¬
mern und Abschnitzeln mehrerer Stämme zusammengesetzt wären. So hat z. B.
selbst das ganz kleine Herzogthum Meiningen unter seinem kaum 140,000 Einwoh¬
nern Sprößlinge der alten Franken nud der uicht weniger alten und berühmten
Thüringer. Ebenso das Kurfürstenthum Hessen, das anßer den eigentlichen Hessen
uoch Sachsen und Franken enthält. Der größeren Staaten ganz zu geschweigen,
von denen z. B. Baiern Theile des fränkischen, schwäbischen und bairischen Stam¬
mes , Preußen von allen niederdeutschen und einigen hochdeutschen enthält. Will
man also a tout prix von einem königlichen bairischen Volksbewußtsein sprechen,
so stelle man sich, um bei sich und bei andern die Confusion zu vermeiden, doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/382>, abgerufen am 22.07.2024.