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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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verwischt. Anderorts lassen sie sich wieder mit haarscharfer Genauigkeit nachweisen.
Wo das erstere stattfindet, weiß ich kein anderes Mittel, als entweder die be¬
treffende unglückliche Bestandbevölkerung selbst Mann sür Mann darüber abstimmen
zu lassen, ob sie sich schwäbisch oder fränkisch, thüringisch oder sächsisch fühlt.
Freilich wird man ihnen dann vorher erst das Verständniß über das wahre, orga¬
nische Wesen der Stammeseigenthümlichkeit kunstreich und mühselig eröffnen müssen.
Oder man gehe rein diplomatisch-historisch, mit den Urkunden an der Hand zu
Werke und erforsche, wie die Greuze des betreffenden Stammes Anno 800 u. Olm-. n.,
wenn es möglich sein sollte, noch ein Paar Jahrhunderte früher, lief, und nach
vollbrachter Ermittelung fange man frisch, fromm, fröhlich mit dem neuen Staats¬
bäu des 19. Jahrhunderts nud der Zukunft an. Ob vielleicht irgend ein Zweig oder
Zweiglein des einen oder andern Stammes keine Lust bezeugt in das ehrwürdige
Vaterhaus zurückzukehren, weil sich der lose Vogel viel in der Welt umgethan,
selbst ein Haus gebaut, sich mit der Tochter eines andern Stammes verehlichr
und am Ende gar seine Confesston geändert hat, kommt nicht in Betracht gegen
den mystischen Segen, der ihn bei seinem Wiedereintritt überschütten wird.

Man wirft gewöhnlich dem Wiener Kongreß vor, er habe die Völker wie
Heerden Vieh verschmaust und zusammengekoppelt, und die Ländergrcnzcn auf dem
Papier mit Zirkel und Bleifeder gezogen, oder man sagt auch, er sei verfahren,
wie ein Fleischer, der seine Waare den Kunden erst zuhackt, dann wiegt und wieder
hackt und wiegt, bis das verlangte Quantum herauskömmt. Das hat allerdings
seine Richtigkeit. Aber es waltete, doch noch wenigstens ein politischer Gedanke
bei dem damaligen Vertheilen Europas und zunächst Deutschlands. Man wollte
einem jeden Staate das von ihm legitim im Sinne der damaligen allgewaltigen
Lenker der Weltgeschicke in Anspruch genommene Gewicht im Verhältniß zu den
übrigen Mächten durch ein bestimmtes Quantum an Laud und Leuten zuertheilen.
Allerdings eine verzweifelt nüchterne und mechanische Auffassung der Politik, aber
doch noch eine, während die Träume von Stammeseigenthümlichkeit u. s. w. gar
nichts sind.

Ich setze den Fall, es wäre in Deutschland wirklich tilbula insii gemacht, d. h.
alle Dynastien gestürzt und den einzelnen Staatsangehörigen die Möglichkeit ge¬
geben , sich beliebig zu trennen und zu verbinden, so wette ich Alles gegen Nichts,
daß kein Mensch, nußer ein paar Professoren, an die gelehrten Stammesgrenzen
denken. Ich traue selbst Herrn Hagen so viel zu, daß er sie dann auch vergäße.
Zehn gegen eins wette ich ferner, daß wenn die Auflösung der größeren Staaten
beliebt werden sollte, alles in möglichst mikroskopische Theilchen auseiuanderführe,
wie ein Hausen Spreu vor dem Winde! Die größeren Städte, in denen ja alle
Fäden des socialen und politischen Lebens ganzer Landstriche schon lange zusammen¬
laufen, würden auf größere oder kleinere Kreise ihre Anziehungskraft üben; tau¬
send andere Verhältnisse, namentlich die religiöse Zerrissenheit in den meisten


Grenzbotl". IV. 4ß

verwischt. Anderorts lassen sie sich wieder mit haarscharfer Genauigkeit nachweisen.
Wo das erstere stattfindet, weiß ich kein anderes Mittel, als entweder die be¬
treffende unglückliche Bestandbevölkerung selbst Mann sür Mann darüber abstimmen
zu lassen, ob sie sich schwäbisch oder fränkisch, thüringisch oder sächsisch fühlt.
Freilich wird man ihnen dann vorher erst das Verständniß über das wahre, orga¬
nische Wesen der Stammeseigenthümlichkeit kunstreich und mühselig eröffnen müssen.
Oder man gehe rein diplomatisch-historisch, mit den Urkunden an der Hand zu
Werke und erforsche, wie die Greuze des betreffenden Stammes Anno 800 u. Olm-. n.,
wenn es möglich sein sollte, noch ein Paar Jahrhunderte früher, lief, und nach
vollbrachter Ermittelung fange man frisch, fromm, fröhlich mit dem neuen Staats¬
bäu des 19. Jahrhunderts nud der Zukunft an. Ob vielleicht irgend ein Zweig oder
Zweiglein des einen oder andern Stammes keine Lust bezeugt in das ehrwürdige
Vaterhaus zurückzukehren, weil sich der lose Vogel viel in der Welt umgethan,
selbst ein Haus gebaut, sich mit der Tochter eines andern Stammes verehlichr
und am Ende gar seine Confesston geändert hat, kommt nicht in Betracht gegen
den mystischen Segen, der ihn bei seinem Wiedereintritt überschütten wird.

Man wirft gewöhnlich dem Wiener Kongreß vor, er habe die Völker wie
Heerden Vieh verschmaust und zusammengekoppelt, und die Ländergrcnzcn auf dem
Papier mit Zirkel und Bleifeder gezogen, oder man sagt auch, er sei verfahren,
wie ein Fleischer, der seine Waare den Kunden erst zuhackt, dann wiegt und wieder
hackt und wiegt, bis das verlangte Quantum herauskömmt. Das hat allerdings
seine Richtigkeit. Aber es waltete, doch noch wenigstens ein politischer Gedanke
bei dem damaligen Vertheilen Europas und zunächst Deutschlands. Man wollte
einem jeden Staate das von ihm legitim im Sinne der damaligen allgewaltigen
Lenker der Weltgeschicke in Anspruch genommene Gewicht im Verhältniß zu den
übrigen Mächten durch ein bestimmtes Quantum an Laud und Leuten zuertheilen.
Allerdings eine verzweifelt nüchterne und mechanische Auffassung der Politik, aber
doch noch eine, während die Träume von Stammeseigenthümlichkeit u. s. w. gar
nichts sind.

Ich setze den Fall, es wäre in Deutschland wirklich tilbula insii gemacht, d. h.
alle Dynastien gestürzt und den einzelnen Staatsangehörigen die Möglichkeit ge¬
geben , sich beliebig zu trennen und zu verbinden, so wette ich Alles gegen Nichts,
daß kein Mensch, nußer ein paar Professoren, an die gelehrten Stammesgrenzen
denken. Ich traue selbst Herrn Hagen so viel zu, daß er sie dann auch vergäße.
Zehn gegen eins wette ich ferner, daß wenn die Auflösung der größeren Staaten
beliebt werden sollte, alles in möglichst mikroskopische Theilchen auseiuanderführe,
wie ein Hausen Spreu vor dem Winde! Die größeren Städte, in denen ja alle
Fäden des socialen und politischen Lebens ganzer Landstriche schon lange zusammen¬
laufen, würden auf größere oder kleinere Kreise ihre Anziehungskraft üben; tau¬
send andere Verhältnisse, namentlich die religiöse Zerrissenheit in den meisten


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[0381] verwischt. Anderorts lassen sie sich wieder mit haarscharfer Genauigkeit nachweisen. Wo das erstere stattfindet, weiß ich kein anderes Mittel, als entweder die be¬ treffende unglückliche Bestandbevölkerung selbst Mann sür Mann darüber abstimmen zu lassen, ob sie sich schwäbisch oder fränkisch, thüringisch oder sächsisch fühlt. Freilich wird man ihnen dann vorher erst das Verständniß über das wahre, orga¬ nische Wesen der Stammeseigenthümlichkeit kunstreich und mühselig eröffnen müssen. Oder man gehe rein diplomatisch-historisch, mit den Urkunden an der Hand zu Werke und erforsche, wie die Greuze des betreffenden Stammes Anno 800 u. Olm-. n., wenn es möglich sein sollte, noch ein Paar Jahrhunderte früher, lief, und nach vollbrachter Ermittelung fange man frisch, fromm, fröhlich mit dem neuen Staats¬ bäu des 19. Jahrhunderts nud der Zukunft an. Ob vielleicht irgend ein Zweig oder Zweiglein des einen oder andern Stammes keine Lust bezeugt in das ehrwürdige Vaterhaus zurückzukehren, weil sich der lose Vogel viel in der Welt umgethan, selbst ein Haus gebaut, sich mit der Tochter eines andern Stammes verehlichr und am Ende gar seine Confesston geändert hat, kommt nicht in Betracht gegen den mystischen Segen, der ihn bei seinem Wiedereintritt überschütten wird. Man wirft gewöhnlich dem Wiener Kongreß vor, er habe die Völker wie Heerden Vieh verschmaust und zusammengekoppelt, und die Ländergrcnzcn auf dem Papier mit Zirkel und Bleifeder gezogen, oder man sagt auch, er sei verfahren, wie ein Fleischer, der seine Waare den Kunden erst zuhackt, dann wiegt und wieder hackt und wiegt, bis das verlangte Quantum herauskömmt. Das hat allerdings seine Richtigkeit. Aber es waltete, doch noch wenigstens ein politischer Gedanke bei dem damaligen Vertheilen Europas und zunächst Deutschlands. Man wollte einem jeden Staate das von ihm legitim im Sinne der damaligen allgewaltigen Lenker der Weltgeschicke in Anspruch genommene Gewicht im Verhältniß zu den übrigen Mächten durch ein bestimmtes Quantum an Laud und Leuten zuertheilen. Allerdings eine verzweifelt nüchterne und mechanische Auffassung der Politik, aber doch noch eine, während die Träume von Stammeseigenthümlichkeit u. s. w. gar nichts sind. Ich setze den Fall, es wäre in Deutschland wirklich tilbula insii gemacht, d. h. alle Dynastien gestürzt und den einzelnen Staatsangehörigen die Möglichkeit ge¬ geben , sich beliebig zu trennen und zu verbinden, so wette ich Alles gegen Nichts, daß kein Mensch, nußer ein paar Professoren, an die gelehrten Stammesgrenzen denken. Ich traue selbst Herrn Hagen so viel zu, daß er sie dann auch vergäße. Zehn gegen eins wette ich ferner, daß wenn die Auflösung der größeren Staaten beliebt werden sollte, alles in möglichst mikroskopische Theilchen auseiuanderführe, wie ein Hausen Spreu vor dem Winde! Die größeren Städte, in denen ja alle Fäden des socialen und politischen Lebens ganzer Landstriche schon lange zusammen¬ laufen, würden auf größere oder kleinere Kreise ihre Anziehungskraft üben; tau¬ send andere Verhältnisse, namentlich die religiöse Zerrissenheit in den meisten Grenzbotl». IV. 4ß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/381>, abgerufen am 22.07.2024.