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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Der unreife Jüngling fällt ein vorschnelles, einseitiges Urtheil, weil er un¬
mittelbar zu Werke gehl und nur eine Seite sieht. Der gebildete Sophist sieht
die verschiedenen Seiten und fragt daher mit den blasirten Lächeln des Pilatus:
was ist Wahrheit? Der Diplomat hält alle Fragen offen: das ist aber der aller-
schlechteste Ausweg. Hamlet, der zu keiner Wahl kommt, weil seine Reflexion
nach allen Seiten schaut, verfällt dem schlimmsten Schicksal. Der Mann soll sich
entschließen; er kann nicht dabei stehen bleiben, Alles zu wählen, oder gar nichts,
er muß sich zur Endlichkeit hcrabstimmen und durch die Verletzung des unendlichen
Nechtsgebiets sich dem Schicksal anheimgeben. Der Mensch hat das Recht und die
Pflicht, die Schuld des Entschlusses auf sich zu laden, wenn er mir seinem Ge¬
wissen folgt. In einer großen Zeit habe er den Muth, die Folgen seiner That
über sein Haupt zu rufen.

Es maM Euch Ehre, Ihr Jünglinge, daß Ihr wenigstens in der Einen Sache,
um die es sich handelte -- in der deutschen Frage -- das Dilemma richtig auf¬
faßtet, es macht Euch Ehre, daß Ihr Euch von den schlauen Magyaren täuschen
ließt. Handelten doch auch sie unter der Gewalt einer Illusion! Es macht Euch
Ehre, daß Ihr die Macht, über die Regierung zu verfüge", zwar redlich benutztet,
aber doch nur Eine Forderung an einen Minister stelltet : Ehrlichkeit! Hättet
Ihr einen ehrlichen Mann an der Spitze Eures Staats gefunden, mit Freuden
hättet Ihr Euch zu seinem Schutze geschaart. Ihr armen Knaben! Wer kann ehr¬
lich sein in einer Aufgabe, die eine in sich selbst widersprechende ist? Ich will
einzelne Handlungen nicht rechtfertigen, aber ich wage zu behaupten, auch bet
Euern Ministern lag der Mangel an Ehrlichkeit nicht in der schlechten Gesinnung,
sondern in der Unmöglichkeit ihrer Stellung. Mit einem Reichstag, dem alle po¬
litische Bildung fehlt -- was Ihr irgend an Kapacitäten besaßet, hatte Euch
Frankfurt entzogen -- kann man nicht regieren; einen gordischen Knoten, der kein
Ende hat, nicht losen. Auch ohne den Octoberanfstanb hätte zuletzt das Schwert
entscheiden müssen ').

Ihr staunt nun und trauert: was haben wir also gethan, daß wir leiden
müssen? -- Ihr seid dennoch schuldig. Die Schuld des bösen Willens ist nicht
die einzige. Ihr tragt die Schuld, die Brutus traf, als er Cäsar mordete und
für den Traum der Republik in einer Zeit eintrat, die einen Cäsar forderte: Ihr
seid in einer Stellung gewesen, die Ihr nicht beherrschen konntet und der Neid
der Götter hat Euch ereilt; Ihr wurdet von dem Sturm der Revolution über die
Tragweite Eurer Schwingen hinausgeführt und fiele nun in wüstes Land herab.
Euer Schicksal ist herbe, aber es ist nothwendig.



5) Als einen Ausdruck dieser Stimmung theile ich einen Brief am Schlüsse des Heftes aus
"Wien" mit, der uns unter den vormärzlichen Borsichtsmaßregeln zukommt-

Der unreife Jüngling fällt ein vorschnelles, einseitiges Urtheil, weil er un¬
mittelbar zu Werke gehl und nur eine Seite sieht. Der gebildete Sophist sieht
die verschiedenen Seiten und fragt daher mit den blasirten Lächeln des Pilatus:
was ist Wahrheit? Der Diplomat hält alle Fragen offen: das ist aber der aller-
schlechteste Ausweg. Hamlet, der zu keiner Wahl kommt, weil seine Reflexion
nach allen Seiten schaut, verfällt dem schlimmsten Schicksal. Der Mann soll sich
entschließen; er kann nicht dabei stehen bleiben, Alles zu wählen, oder gar nichts,
er muß sich zur Endlichkeit hcrabstimmen und durch die Verletzung des unendlichen
Nechtsgebiets sich dem Schicksal anheimgeben. Der Mensch hat das Recht und die
Pflicht, die Schuld des Entschlusses auf sich zu laden, wenn er mir seinem Ge¬
wissen folgt. In einer großen Zeit habe er den Muth, die Folgen seiner That
über sein Haupt zu rufen.

Es maM Euch Ehre, Ihr Jünglinge, daß Ihr wenigstens in der Einen Sache,
um die es sich handelte — in der deutschen Frage — das Dilemma richtig auf¬
faßtet, es macht Euch Ehre, daß Ihr Euch von den schlauen Magyaren täuschen
ließt. Handelten doch auch sie unter der Gewalt einer Illusion! Es macht Euch
Ehre, daß Ihr die Macht, über die Regierung zu verfüge», zwar redlich benutztet,
aber doch nur Eine Forderung an einen Minister stelltet : Ehrlichkeit! Hättet
Ihr einen ehrlichen Mann an der Spitze Eures Staats gefunden, mit Freuden
hättet Ihr Euch zu seinem Schutze geschaart. Ihr armen Knaben! Wer kann ehr¬
lich sein in einer Aufgabe, die eine in sich selbst widersprechende ist? Ich will
einzelne Handlungen nicht rechtfertigen, aber ich wage zu behaupten, auch bet
Euern Ministern lag der Mangel an Ehrlichkeit nicht in der schlechten Gesinnung,
sondern in der Unmöglichkeit ihrer Stellung. Mit einem Reichstag, dem alle po¬
litische Bildung fehlt — was Ihr irgend an Kapacitäten besaßet, hatte Euch
Frankfurt entzogen — kann man nicht regieren; einen gordischen Knoten, der kein
Ende hat, nicht losen. Auch ohne den Octoberanfstanb hätte zuletzt das Schwert
entscheiden müssen ').

Ihr staunt nun und trauert: was haben wir also gethan, daß wir leiden
müssen? — Ihr seid dennoch schuldig. Die Schuld des bösen Willens ist nicht
die einzige. Ihr tragt die Schuld, die Brutus traf, als er Cäsar mordete und
für den Traum der Republik in einer Zeit eintrat, die einen Cäsar forderte: Ihr
seid in einer Stellung gewesen, die Ihr nicht beherrschen konntet und der Neid
der Götter hat Euch ereilt; Ihr wurdet von dem Sturm der Revolution über die
Tragweite Eurer Schwingen hinausgeführt und fiele nun in wüstes Land herab.
Euer Schicksal ist herbe, aber es ist nothwendig.



5) Als einen Ausdruck dieser Stimmung theile ich einen Brief am Schlüsse des Heftes aus
„Wien" mit, der uns unter den vormärzlichen Borsichtsmaßregeln zukommt-
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[0342] Der unreife Jüngling fällt ein vorschnelles, einseitiges Urtheil, weil er un¬ mittelbar zu Werke gehl und nur eine Seite sieht. Der gebildete Sophist sieht die verschiedenen Seiten und fragt daher mit den blasirten Lächeln des Pilatus: was ist Wahrheit? Der Diplomat hält alle Fragen offen: das ist aber der aller- schlechteste Ausweg. Hamlet, der zu keiner Wahl kommt, weil seine Reflexion nach allen Seiten schaut, verfällt dem schlimmsten Schicksal. Der Mann soll sich entschließen; er kann nicht dabei stehen bleiben, Alles zu wählen, oder gar nichts, er muß sich zur Endlichkeit hcrabstimmen und durch die Verletzung des unendlichen Nechtsgebiets sich dem Schicksal anheimgeben. Der Mensch hat das Recht und die Pflicht, die Schuld des Entschlusses auf sich zu laden, wenn er mir seinem Ge¬ wissen folgt. In einer großen Zeit habe er den Muth, die Folgen seiner That über sein Haupt zu rufen. Es maM Euch Ehre, Ihr Jünglinge, daß Ihr wenigstens in der Einen Sache, um die es sich handelte — in der deutschen Frage — das Dilemma richtig auf¬ faßtet, es macht Euch Ehre, daß Ihr Euch von den schlauen Magyaren täuschen ließt. Handelten doch auch sie unter der Gewalt einer Illusion! Es macht Euch Ehre, daß Ihr die Macht, über die Regierung zu verfüge», zwar redlich benutztet, aber doch nur Eine Forderung an einen Minister stelltet : Ehrlichkeit! Hättet Ihr einen ehrlichen Mann an der Spitze Eures Staats gefunden, mit Freuden hättet Ihr Euch zu seinem Schutze geschaart. Ihr armen Knaben! Wer kann ehr¬ lich sein in einer Aufgabe, die eine in sich selbst widersprechende ist? Ich will einzelne Handlungen nicht rechtfertigen, aber ich wage zu behaupten, auch bet Euern Ministern lag der Mangel an Ehrlichkeit nicht in der schlechten Gesinnung, sondern in der Unmöglichkeit ihrer Stellung. Mit einem Reichstag, dem alle po¬ litische Bildung fehlt — was Ihr irgend an Kapacitäten besaßet, hatte Euch Frankfurt entzogen — kann man nicht regieren; einen gordischen Knoten, der kein Ende hat, nicht losen. Auch ohne den Octoberanfstanb hätte zuletzt das Schwert entscheiden müssen '). Ihr staunt nun und trauert: was haben wir also gethan, daß wir leiden müssen? — Ihr seid dennoch schuldig. Die Schuld des bösen Willens ist nicht die einzige. Ihr tragt die Schuld, die Brutus traf, als er Cäsar mordete und für den Traum der Republik in einer Zeit eintrat, die einen Cäsar forderte: Ihr seid in einer Stellung gewesen, die Ihr nicht beherrschen konntet und der Neid der Götter hat Euch ereilt; Ihr wurdet von dem Sturm der Revolution über die Tragweite Eurer Schwingen hinausgeführt und fiele nun in wüstes Land herab. Euer Schicksal ist herbe, aber es ist nothwendig. 5) Als einen Ausdruck dieser Stimmung theile ich einen Brief am Schlüsse des Heftes aus „Wien" mit, der uns unter den vormärzlichen Borsichtsmaßregeln zukommt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/342>, abgerufen am 29.06.2024.