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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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weitere Bedeutung zu haben, an die unmittelbare empirische Anschauung erinnert,
während im übrigen die Ausführung, bei aller sinnlichen Lebendigkeit, symbo-
lisch gehalten ist. Der Hauptfigur folgt ein anderer Reiter. Der Held blickt
ohne Interesse, aber mit männlichem Ernst, nach dem gestürzten König zurück, der
ihn früher zu unwilligem Dienst in seinen Kreis bannte; er empfindet in der Ver¬
änderung nur die Freiheit, seine Kraft zum eignen Ruhm zu gebrauchen. Eine
Gruppe schöner Frauen, die im Begriff sind, der Karavane zu folgen, winkt den
um den König Zurückbleibenden zu, sich ihnen anzuschließen. Einige Harfner, die
früher vor dem König spielten, und die vorläufig nicht recht wissen, was sie zu
dem Umschwung der Dinge sagen sollen, werden durch einen Knaben, mit Pfeifen
im Gürtel, lebhaft aufgefordert, diesem Ruf Folge zu leisten. Der Sänger soll
mitziehen, wo Heldenthaten zu erwarten sind, und so wird dieser Zug den Stamm
bilden, aus welchem die Heroen und die Säuger der Ilias hervorgingen.

Einen wesentlich verschiedenen Charakter zeigt die Gruppe links: ein Wagen
in sehr primitiven Verhältnissen, von zwei wackern Ochsen gezogen, welche die
Bewunderung aller Kenner in dieser Branche erregt haben. Ans demselben sitzend
ein Patriarch, der über zwei furchtsame Kinder, die vor dem Ungethümen der
Mittelgrnppe flüchten, schützend seine Arme ausbreitet, und mit verständiger Ue-
berlegung zu der Erscheinung Gottes hinaufschaut, deren sittliche Tendenz er zu
würdigen scheint; zu seiner Seite ein ruhig sinnender, halbreifer Knabe mit den
Gerätschaften der Viehzucht und des Ackerbaus; hinter ihm ein Vater mit Weib
und Kind; neben den Wagen ein kräftiges Weib mit einem Kind im Korbe aus
dem Kopf, etwas Karhatidenartig ausgeführt; mehrere Kinder, die mit Weintrau¬
ben spielen, eine Kuh, der ein Kalb Blumen und Gras ans dem Munde abwei¬
det, und eine ganze Zahl idyllischer Schafe in der ganzen Anmuth und Würde
ihrer legitimen Unschuld. Im Gegensatz zu dem heroischen Individualismus
der ersten Gruppe haben wir bier die heilige Stille des patriarchischen Fa¬
milienlebens, dort die kräftige Bewegung des griechischen Circus, hier die innige
Beschaulichkeit Indiens, an dessen Stamm aves der typische Ausdruck der Köpfe
erinnert. Die Haltung der Figuren hat etwas jungfräulich bedächtiges; sie schauen
ans großen, klugen Angen träumerisch sinnend vor sich hin, während in den
Blicken der ersten Gruppe eine unruhige, ans alles Objective gerichtete Be¬
weglichkeit sich ausdrückt. In den jungen Gestalten -- z. B. dem Knaben neben
dem Patriarchen und dem neben den Helden -- prägt dieser Gegensatz sich schär¬
fer ans; das Mannesalter nähert; die männlich ernste Haltung des Helden
und der schwungreich kühne Kops des Patriarchen lassen den Unterschied der ur¬
sprünglichen Anlage weniger hervortreten. Der Patriarch wird, wenn es Noth
thut, für seine Familie die Axt zu ergreifen wissen; der Held mit liebevoller
Sorgfalt zu seinen Söhnen herablicken, wenn er sie auch rauher erzieht, die jungen
Falten eines kriegerischen Stammes.


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weitere Bedeutung zu haben, an die unmittelbare empirische Anschauung erinnert,
während im übrigen die Ausführung, bei aller sinnlichen Lebendigkeit, symbo-
lisch gehalten ist. Der Hauptfigur folgt ein anderer Reiter. Der Held blickt
ohne Interesse, aber mit männlichem Ernst, nach dem gestürzten König zurück, der
ihn früher zu unwilligem Dienst in seinen Kreis bannte; er empfindet in der Ver¬
änderung nur die Freiheit, seine Kraft zum eignen Ruhm zu gebrauchen. Eine
Gruppe schöner Frauen, die im Begriff sind, der Karavane zu folgen, winkt den
um den König Zurückbleibenden zu, sich ihnen anzuschließen. Einige Harfner, die
früher vor dem König spielten, und die vorläufig nicht recht wissen, was sie zu
dem Umschwung der Dinge sagen sollen, werden durch einen Knaben, mit Pfeifen
im Gürtel, lebhaft aufgefordert, diesem Ruf Folge zu leisten. Der Sänger soll
mitziehen, wo Heldenthaten zu erwarten sind, und so wird dieser Zug den Stamm
bilden, aus welchem die Heroen und die Säuger der Ilias hervorgingen.

Einen wesentlich verschiedenen Charakter zeigt die Gruppe links: ein Wagen
in sehr primitiven Verhältnissen, von zwei wackern Ochsen gezogen, welche die
Bewunderung aller Kenner in dieser Branche erregt haben. Ans demselben sitzend
ein Patriarch, der über zwei furchtsame Kinder, die vor dem Ungethümen der
Mittelgrnppe flüchten, schützend seine Arme ausbreitet, und mit verständiger Ue-
berlegung zu der Erscheinung Gottes hinaufschaut, deren sittliche Tendenz er zu
würdigen scheint; zu seiner Seite ein ruhig sinnender, halbreifer Knabe mit den
Gerätschaften der Viehzucht und des Ackerbaus; hinter ihm ein Vater mit Weib
und Kind; neben den Wagen ein kräftiges Weib mit einem Kind im Korbe aus
dem Kopf, etwas Karhatidenartig ausgeführt; mehrere Kinder, die mit Weintrau¬
ben spielen, eine Kuh, der ein Kalb Blumen und Gras ans dem Munde abwei¬
det, und eine ganze Zahl idyllischer Schafe in der ganzen Anmuth und Würde
ihrer legitimen Unschuld. Im Gegensatz zu dem heroischen Individualismus
der ersten Gruppe haben wir bier die heilige Stille des patriarchischen Fa¬
milienlebens, dort die kräftige Bewegung des griechischen Circus, hier die innige
Beschaulichkeit Indiens, an dessen Stamm aves der typische Ausdruck der Köpfe
erinnert. Die Haltung der Figuren hat etwas jungfräulich bedächtiges; sie schauen
ans großen, klugen Angen träumerisch sinnend vor sich hin, während in den
Blicken der ersten Gruppe eine unruhige, ans alles Objective gerichtete Be¬
weglichkeit sich ausdrückt. In den jungen Gestalten — z. B. dem Knaben neben
dem Patriarchen und dem neben den Helden — prägt dieser Gegensatz sich schär¬
fer ans; das Mannesalter nähert; die männlich ernste Haltung des Helden
und der schwungreich kühne Kops des Patriarchen lassen den Unterschied der ur¬
sprünglichen Anlage weniger hervortreten. Der Patriarch wird, wenn es Noth
thut, für seine Familie die Axt zu ergreifen wissen; der Held mit liebevoller
Sorgfalt zu seinen Söhnen herablicken, wenn er sie auch rauher erzieht, die jungen
Falten eines kriegerischen Stammes.


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[0309] weitere Bedeutung zu haben, an die unmittelbare empirische Anschauung erinnert, während im übrigen die Ausführung, bei aller sinnlichen Lebendigkeit, symbo- lisch gehalten ist. Der Hauptfigur folgt ein anderer Reiter. Der Held blickt ohne Interesse, aber mit männlichem Ernst, nach dem gestürzten König zurück, der ihn früher zu unwilligem Dienst in seinen Kreis bannte; er empfindet in der Ver¬ änderung nur die Freiheit, seine Kraft zum eignen Ruhm zu gebrauchen. Eine Gruppe schöner Frauen, die im Begriff sind, der Karavane zu folgen, winkt den um den König Zurückbleibenden zu, sich ihnen anzuschließen. Einige Harfner, die früher vor dem König spielten, und die vorläufig nicht recht wissen, was sie zu dem Umschwung der Dinge sagen sollen, werden durch einen Knaben, mit Pfeifen im Gürtel, lebhaft aufgefordert, diesem Ruf Folge zu leisten. Der Sänger soll mitziehen, wo Heldenthaten zu erwarten sind, und so wird dieser Zug den Stamm bilden, aus welchem die Heroen und die Säuger der Ilias hervorgingen. Einen wesentlich verschiedenen Charakter zeigt die Gruppe links: ein Wagen in sehr primitiven Verhältnissen, von zwei wackern Ochsen gezogen, welche die Bewunderung aller Kenner in dieser Branche erregt haben. Ans demselben sitzend ein Patriarch, der über zwei furchtsame Kinder, die vor dem Ungethümen der Mittelgrnppe flüchten, schützend seine Arme ausbreitet, und mit verständiger Ue- berlegung zu der Erscheinung Gottes hinaufschaut, deren sittliche Tendenz er zu würdigen scheint; zu seiner Seite ein ruhig sinnender, halbreifer Knabe mit den Gerätschaften der Viehzucht und des Ackerbaus; hinter ihm ein Vater mit Weib und Kind; neben den Wagen ein kräftiges Weib mit einem Kind im Korbe aus dem Kopf, etwas Karhatidenartig ausgeführt; mehrere Kinder, die mit Weintrau¬ ben spielen, eine Kuh, der ein Kalb Blumen und Gras ans dem Munde abwei¬ det, und eine ganze Zahl idyllischer Schafe in der ganzen Anmuth und Würde ihrer legitimen Unschuld. Im Gegensatz zu dem heroischen Individualismus der ersten Gruppe haben wir bier die heilige Stille des patriarchischen Fa¬ milienlebens, dort die kräftige Bewegung des griechischen Circus, hier die innige Beschaulichkeit Indiens, an dessen Stamm aves der typische Ausdruck der Köpfe erinnert. Die Haltung der Figuren hat etwas jungfräulich bedächtiges; sie schauen ans großen, klugen Angen träumerisch sinnend vor sich hin, während in den Blicken der ersten Gruppe eine unruhige, ans alles Objective gerichtete Be¬ weglichkeit sich ausdrückt. In den jungen Gestalten — z. B. dem Knaben neben dem Patriarchen und dem neben den Helden — prägt dieser Gegensatz sich schär¬ fer ans; das Mannesalter nähert; die männlich ernste Haltung des Helden und der schwungreich kühne Kops des Patriarchen lassen den Unterschied der ur¬ sprünglichen Anlage weniger hervortreten. Der Patriarch wird, wenn es Noth thut, für seine Familie die Axt zu ergreifen wissen; der Held mit liebevoller Sorgfalt zu seinen Söhnen herablicken, wenn er sie auch rauher erzieht, die jungen Falten eines kriegerischen Stammes. BrmMen. IV. Z9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/309>, abgerufen am 22.07.2024.