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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Des Kaisers Neffe.



Die französische Republik ist nun gerade vier Monate alt; ihre Verfassung
ist noch nicht einmal zur Berathung gekommen; und ihr Dasein scheint jeden
Morgen von neuen Sturmwolken bedroht, die sich des Abends regelmäßig ver-
ziehen, um in anderer Gestalt nach kurzer Frist wiederzukehren. Die neue Frei¬
heit wird vou ihrem zweiten Vormund, dem neuen Provisorium, ziemlich knapp
gehalten; ihr ärgster Kerkermeister, Louis Philipp, hätte vier Monate nach seiner
Thronbesteigung ihr nicht so artige Zwangsjäckchen anlegen können, wie die As-
semblee nationale that; erstens prinzipielle Abschaffung des unabhängigen Richter¬
standes; zweitens die argwöhnischste Beschränkung des Versammlungsrechtes; end¬
lich drittens die versprochene Wiederherstellung eines gehörigen Preßzwanges durch
hohe Kautionen. Zum Ersatz für diese seinen Auslegungen der "demokratischen
Republik" zeigt die Vollstreckungsgewalt entschieden communistische Sympathien-
der Finanzminister Duclerc besteht nämlich mit einem Trotz, der einer bessern
Sache würdig wäre, auf der Usurpation aller Eisenbahnen durch den Staat. Ver¬
muthlich ist das nnr ein Communismus aus Noth, deun die Pariser Republik
braucht Geld, viel Geld, und siehe da, es findet sich Niemand, welcher dem
wohlfeilsten aller Gouvernements die Kleinigkeit von vier hundert Millionen vor¬
schießen möchte. --

Es ist ein peinliches Schauspiel! Mehr Verlegenheit als Enthusiasmus,
mehr Decrete als wirkliche Maßregeln und mehr Phrasen als Decrete. Der
unbefangene Beobachter muß sich unwillkürlich fragen: Leidet die französische Re¬
publik an den gewöhnlichen Kinderkrankheiten oder an Altersschwäche, wie der
Genius vou Lamartine? Der Genius von Lamartine soll wirklich müde sein.
Glänzende Reden an die Nation und Europa sind nicht mehr zu halten, fast
alle Themata sind erschöpft; selbst das Pariser Publikum findet seine großartigen
Herzergießungen schon etwas lang und möchte endlich Thaten sehen. Mau er¬
zählt daher ziemlich allgemein, Lamartine wolle sich ins Privatleben zurückziehen
und nur die Beredsamkeit seiner edlen Gemahlin habe ihn bis jetzt von diesem
verhängnißvollen Schritte zurückhalten können. Neune man es Altersschwäche
oder Kinderkrankheiten; soviel ist gewiß, der Republik fehlt was. Ihr fehlt das


Grenzboten. II. 1845.
Des Kaisers Neffe.



Die französische Republik ist nun gerade vier Monate alt; ihre Verfassung
ist noch nicht einmal zur Berathung gekommen; und ihr Dasein scheint jeden
Morgen von neuen Sturmwolken bedroht, die sich des Abends regelmäßig ver-
ziehen, um in anderer Gestalt nach kurzer Frist wiederzukehren. Die neue Frei¬
heit wird vou ihrem zweiten Vormund, dem neuen Provisorium, ziemlich knapp
gehalten; ihr ärgster Kerkermeister, Louis Philipp, hätte vier Monate nach seiner
Thronbesteigung ihr nicht so artige Zwangsjäckchen anlegen können, wie die As-
semblee nationale that; erstens prinzipielle Abschaffung des unabhängigen Richter¬
standes; zweitens die argwöhnischste Beschränkung des Versammlungsrechtes; end¬
lich drittens die versprochene Wiederherstellung eines gehörigen Preßzwanges durch
hohe Kautionen. Zum Ersatz für diese seinen Auslegungen der „demokratischen
Republik" zeigt die Vollstreckungsgewalt entschieden communistische Sympathien-
der Finanzminister Duclerc besteht nämlich mit einem Trotz, der einer bessern
Sache würdig wäre, auf der Usurpation aller Eisenbahnen durch den Staat. Ver¬
muthlich ist das nnr ein Communismus aus Noth, deun die Pariser Republik
braucht Geld, viel Geld, und siehe da, es findet sich Niemand, welcher dem
wohlfeilsten aller Gouvernements die Kleinigkeit von vier hundert Millionen vor¬
schießen möchte. —

Es ist ein peinliches Schauspiel! Mehr Verlegenheit als Enthusiasmus,
mehr Decrete als wirkliche Maßregeln und mehr Phrasen als Decrete. Der
unbefangene Beobachter muß sich unwillkürlich fragen: Leidet die französische Re¬
publik an den gewöhnlichen Kinderkrankheiten oder an Altersschwäche, wie der
Genius vou Lamartine? Der Genius von Lamartine soll wirklich müde sein.
Glänzende Reden an die Nation und Europa sind nicht mehr zu halten, fast
alle Themata sind erschöpft; selbst das Pariser Publikum findet seine großartigen
Herzergießungen schon etwas lang und möchte endlich Thaten sehen. Mau er¬
zählt daher ziemlich allgemein, Lamartine wolle sich ins Privatleben zurückziehen
und nur die Beredsamkeit seiner edlen Gemahlin habe ihn bis jetzt von diesem
verhängnißvollen Schritte zurückhalten können. Neune man es Altersschwäche
oder Kinderkrankheiten; soviel ist gewiß, der Republik fehlt was. Ihr fehlt das


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[0479] Des Kaisers Neffe. Die französische Republik ist nun gerade vier Monate alt; ihre Verfassung ist noch nicht einmal zur Berathung gekommen; und ihr Dasein scheint jeden Morgen von neuen Sturmwolken bedroht, die sich des Abends regelmäßig ver- ziehen, um in anderer Gestalt nach kurzer Frist wiederzukehren. Die neue Frei¬ heit wird vou ihrem zweiten Vormund, dem neuen Provisorium, ziemlich knapp gehalten; ihr ärgster Kerkermeister, Louis Philipp, hätte vier Monate nach seiner Thronbesteigung ihr nicht so artige Zwangsjäckchen anlegen können, wie die As- semblee nationale that; erstens prinzipielle Abschaffung des unabhängigen Richter¬ standes; zweitens die argwöhnischste Beschränkung des Versammlungsrechtes; end¬ lich drittens die versprochene Wiederherstellung eines gehörigen Preßzwanges durch hohe Kautionen. Zum Ersatz für diese seinen Auslegungen der „demokratischen Republik" zeigt die Vollstreckungsgewalt entschieden communistische Sympathien- der Finanzminister Duclerc besteht nämlich mit einem Trotz, der einer bessern Sache würdig wäre, auf der Usurpation aller Eisenbahnen durch den Staat. Ver¬ muthlich ist das nnr ein Communismus aus Noth, deun die Pariser Republik braucht Geld, viel Geld, und siehe da, es findet sich Niemand, welcher dem wohlfeilsten aller Gouvernements die Kleinigkeit von vier hundert Millionen vor¬ schießen möchte. — Es ist ein peinliches Schauspiel! Mehr Verlegenheit als Enthusiasmus, mehr Decrete als wirkliche Maßregeln und mehr Phrasen als Decrete. Der unbefangene Beobachter muß sich unwillkürlich fragen: Leidet die französische Re¬ publik an den gewöhnlichen Kinderkrankheiten oder an Altersschwäche, wie der Genius vou Lamartine? Der Genius von Lamartine soll wirklich müde sein. Glänzende Reden an die Nation und Europa sind nicht mehr zu halten, fast alle Themata sind erschöpft; selbst das Pariser Publikum findet seine großartigen Herzergießungen schon etwas lang und möchte endlich Thaten sehen. Mau er¬ zählt daher ziemlich allgemein, Lamartine wolle sich ins Privatleben zurückziehen und nur die Beredsamkeit seiner edlen Gemahlin habe ihn bis jetzt von diesem verhängnißvollen Schritte zurückhalten können. Neune man es Altersschwäche oder Kinderkrankheiten; soviel ist gewiß, der Republik fehlt was. Ihr fehlt das Grenzboten. II. 1845.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/479>, abgerufen am 26.06.2024.