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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Nur leider findet die Tugend keine andern Werkzeuge, als die alten des Lasters;
die guten, redlichen Männer, das specifische "Volk" ist zwar wohlgesinnt, aber es
versteht von der Regierung nichts. Die Tugend muß die Fvuchv's des alten
Systems in ihre Dienste nehmen, um sich selber zu realisiren.

Und leider ist es der Tugend leichter, die Uebelgesinnten von ihren Stellen
zu entfernen, sie zu verbannen oder allenfalls zu guillotiniren, als die ethischen
Principien ihres neuen Evangeliums zu verwirklichen. Dem Propheten ist es
leicht, das neue Reich des Guten in entzückenden Visionen zu schauen; er wird,
wenn er zur Regierung kommt, gut stilisirte Manifeste abfassen und sie durch seine
diplomatischen Geschäftsträger den staunenden Heiden verkündigen; aber die Wirk¬
lichkeit der Freiheit und Gleichheit wird durch ein Decret noch nicht hergestellt.
Die Tugend muß sich vorläufig mit Versprechungen begnüge".

Die Versprechungen erbittern, wenn ihre Erfüllung lange auf sich warten
läßt. Die Unfähigkeit gilt als böser Wille, der Leichtsinn des Versprechens
als ein prämeditmer Betrug. Das Volk nährt sich nicht lange von der Lnftspeise
der Verheißung; wenn seine Propheten aus dem Zustand des unausgesetzten Pro-
phezeiens nicht hinausgehen, so nimmt es entweder in seiner Ungeduld die Waffen
selber in die Hand, oder der alte Egoismus tritt aufs neue hervor, in der Ueber¬
zeugung, die Schwärmereien der Tugend durch ihre eigene Erfolglosigkeit wider¬
legt zu sehen.

Die ganze Hoffnung des neuen Reichs, da die provisorische Regierung auch
nur provisorische Versprechungen geben konnte, war ans die versammelten Ver¬
treter des neuen Frankreich gestützt. Aber das neue Frankreich war vorläufig nur
in der Idee der Enthusiasten; die wirklichen Wähler, man mochte ihren Kreis
ausdehnen, so weit man wollte, gehörten der alten Bildung an. Wenn die Com-
missarien der Tugend durch die Kraft ihrer Ueberredung oder geradezu durch phy¬
sische Gewalt dem neuen Geist Eingang zu verschaffen suchten, so war entweder
der Egoismus zu zäh, als daß sie seinen Widerstand hätten brechen können; oder,
wenn es ihnen gelang, so war die Wahl das Resultat der Schwäche und gab
eben so wenig Garantie für den Bestand der alleinseligmachenden Republik.

Es kounte nicht fehlen, die Versammlung im Großen und Ganzen gab das
Bild politischer Ungeschicklichkeit. Der edle Chansonnier der Freiheit, Beranger,
hatte ganz recht, sein Mandat niederzulegen; man kann die Freiheit lieben und
doch unfähig sein, sie zu realisiren. Andere hatten geringere Selbsterkenntniß, und
darum größeres Vertrauen zu sich selber.

Freilich wurde der bisher nur provisorische Zustand der Republik in Perma¬
nenz erklärt. Was sollte man auch thun? Selbst wenn die Mehrzahl der Depu¬
taten gegen die Republik gewesen wäre, der König war einmal fort, und eine
Wiederherstellung des Königthums war eine neue Revolution, d. h. ein neuer
Choc gegen den Besitz. Wenn die Franzosen einen neuen Zustand sanctioniren,


Nur leider findet die Tugend keine andern Werkzeuge, als die alten des Lasters;
die guten, redlichen Männer, das specifische „Volk" ist zwar wohlgesinnt, aber es
versteht von der Regierung nichts. Die Tugend muß die Fvuchv's des alten
Systems in ihre Dienste nehmen, um sich selber zu realisiren.

Und leider ist es der Tugend leichter, die Uebelgesinnten von ihren Stellen
zu entfernen, sie zu verbannen oder allenfalls zu guillotiniren, als die ethischen
Principien ihres neuen Evangeliums zu verwirklichen. Dem Propheten ist es
leicht, das neue Reich des Guten in entzückenden Visionen zu schauen; er wird,
wenn er zur Regierung kommt, gut stilisirte Manifeste abfassen und sie durch seine
diplomatischen Geschäftsträger den staunenden Heiden verkündigen; aber die Wirk¬
lichkeit der Freiheit und Gleichheit wird durch ein Decret noch nicht hergestellt.
Die Tugend muß sich vorläufig mit Versprechungen begnüge».

Die Versprechungen erbittern, wenn ihre Erfüllung lange auf sich warten
läßt. Die Unfähigkeit gilt als böser Wille, der Leichtsinn des Versprechens
als ein prämeditmer Betrug. Das Volk nährt sich nicht lange von der Lnftspeise
der Verheißung; wenn seine Propheten aus dem Zustand des unausgesetzten Pro-
phezeiens nicht hinausgehen, so nimmt es entweder in seiner Ungeduld die Waffen
selber in die Hand, oder der alte Egoismus tritt aufs neue hervor, in der Ueber¬
zeugung, die Schwärmereien der Tugend durch ihre eigene Erfolglosigkeit wider¬
legt zu sehen.

Die ganze Hoffnung des neuen Reichs, da die provisorische Regierung auch
nur provisorische Versprechungen geben konnte, war ans die versammelten Ver¬
treter des neuen Frankreich gestützt. Aber das neue Frankreich war vorläufig nur
in der Idee der Enthusiasten; die wirklichen Wähler, man mochte ihren Kreis
ausdehnen, so weit man wollte, gehörten der alten Bildung an. Wenn die Com-
missarien der Tugend durch die Kraft ihrer Ueberredung oder geradezu durch phy¬
sische Gewalt dem neuen Geist Eingang zu verschaffen suchten, so war entweder
der Egoismus zu zäh, als daß sie seinen Widerstand hätten brechen können; oder,
wenn es ihnen gelang, so war die Wahl das Resultat der Schwäche und gab
eben so wenig Garantie für den Bestand der alleinseligmachenden Republik.

Es kounte nicht fehlen, die Versammlung im Großen und Ganzen gab das
Bild politischer Ungeschicklichkeit. Der edle Chansonnier der Freiheit, Beranger,
hatte ganz recht, sein Mandat niederzulegen; man kann die Freiheit lieben und
doch unfähig sein, sie zu realisiren. Andere hatten geringere Selbsterkenntniß, und
darum größeres Vertrauen zu sich selber.

Freilich wurde der bisher nur provisorische Zustand der Republik in Perma¬
nenz erklärt. Was sollte man auch thun? Selbst wenn die Mehrzahl der Depu¬
taten gegen die Republik gewesen wäre, der König war einmal fort, und eine
Wiederherstellung des Königthums war eine neue Revolution, d. h. ein neuer
Choc gegen den Besitz. Wenn die Franzosen einen neuen Zustand sanctioniren,


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[0350] Nur leider findet die Tugend keine andern Werkzeuge, als die alten des Lasters; die guten, redlichen Männer, das specifische „Volk" ist zwar wohlgesinnt, aber es versteht von der Regierung nichts. Die Tugend muß die Fvuchv's des alten Systems in ihre Dienste nehmen, um sich selber zu realisiren. Und leider ist es der Tugend leichter, die Uebelgesinnten von ihren Stellen zu entfernen, sie zu verbannen oder allenfalls zu guillotiniren, als die ethischen Principien ihres neuen Evangeliums zu verwirklichen. Dem Propheten ist es leicht, das neue Reich des Guten in entzückenden Visionen zu schauen; er wird, wenn er zur Regierung kommt, gut stilisirte Manifeste abfassen und sie durch seine diplomatischen Geschäftsträger den staunenden Heiden verkündigen; aber die Wirk¬ lichkeit der Freiheit und Gleichheit wird durch ein Decret noch nicht hergestellt. Die Tugend muß sich vorläufig mit Versprechungen begnüge». Die Versprechungen erbittern, wenn ihre Erfüllung lange auf sich warten läßt. Die Unfähigkeit gilt als böser Wille, der Leichtsinn des Versprechens als ein prämeditmer Betrug. Das Volk nährt sich nicht lange von der Lnftspeise der Verheißung; wenn seine Propheten aus dem Zustand des unausgesetzten Pro- phezeiens nicht hinausgehen, so nimmt es entweder in seiner Ungeduld die Waffen selber in die Hand, oder der alte Egoismus tritt aufs neue hervor, in der Ueber¬ zeugung, die Schwärmereien der Tugend durch ihre eigene Erfolglosigkeit wider¬ legt zu sehen. Die ganze Hoffnung des neuen Reichs, da die provisorische Regierung auch nur provisorische Versprechungen geben konnte, war ans die versammelten Ver¬ treter des neuen Frankreich gestützt. Aber das neue Frankreich war vorläufig nur in der Idee der Enthusiasten; die wirklichen Wähler, man mochte ihren Kreis ausdehnen, so weit man wollte, gehörten der alten Bildung an. Wenn die Com- missarien der Tugend durch die Kraft ihrer Ueberredung oder geradezu durch phy¬ sische Gewalt dem neuen Geist Eingang zu verschaffen suchten, so war entweder der Egoismus zu zäh, als daß sie seinen Widerstand hätten brechen können; oder, wenn es ihnen gelang, so war die Wahl das Resultat der Schwäche und gab eben so wenig Garantie für den Bestand der alleinseligmachenden Republik. Es kounte nicht fehlen, die Versammlung im Großen und Ganzen gab das Bild politischer Ungeschicklichkeit. Der edle Chansonnier der Freiheit, Beranger, hatte ganz recht, sein Mandat niederzulegen; man kann die Freiheit lieben und doch unfähig sein, sie zu realisiren. Andere hatten geringere Selbsterkenntniß, und darum größeres Vertrauen zu sich selber. Freilich wurde der bisher nur provisorische Zustand der Republik in Perma¬ nenz erklärt. Was sollte man auch thun? Selbst wenn die Mehrzahl der Depu¬ taten gegen die Republik gewesen wäre, der König war einmal fort, und eine Wiederherstellung des Königthums war eine neue Revolution, d. h. ein neuer Choc gegen den Besitz. Wenn die Franzosen einen neuen Zustand sanctioniren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/350>, abgerufen am 26.06.2024.