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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Druckes, den der Einzelne schwer und verhängnißvoll empfindet, im Ganzen die
Vernunft durch ihr eignes Gewicht sich geltend macht, wenn sie mit sittlicher Kraft
und sittlicher Energie verbunden ist. Die Revolution ist nicht das Zeichen sitt¬
licher Kraft, sie ist ein Ausbruch sittlicher Schwäche.

Indem Frankreich es einer Masse Pariser Emeutiers überließ, über seine
Geschicke zu bestimmen, brach es über sich selber den Stab; es vertraute seine
Gesundheit der verzweifelten Cur eines ihm fremden Wunderdoktors.

I^a l^r-me" s'ermine! sagte Herr von Lamartine, als der träge Egoismus
der herrschenden Classen der "großen Nation" das süße Gefühl raubte, an der
Spitze der europäischen Bewegung zu stehen. I^-i, Trance s'attriste! sagte er, als
dieser Egoismus, wenn auch nur in einzelnen Erscheinungen, in seiner nackten
Abscheulichkeit zur Anschauung kam, als es sich zeigte, das officielle Frankreich sei
nicht nur unfähig, das Vaterland in der heroischen Stellung zu erhalten, die der
kühne Muth der Jugend und die glorreiche Erinnerung der alten Graubärte für
es forderten, sondern es hege in seinem Schooß die ganze Ruchlosigkeit einer von
den großen Ideen der Geschichte verlassenen Welt. Ehrgeiz kämpfte mit Ehrgeiz,
Habsucht mit Habsucht; die Nation, ermüdet und empört, erhob sich, schüttelte mit
Einem Schlage die eine Partei wie die andere von sich ab und legte ihr Schicksal
in die Hände eines Poeten, eines träumerischen Philosophen und eines Jakobiners.

Der Sturz der Dynastie war nicht der Ausbruch einer productiven Kraft,
er war ein Ausbruch der Verzweiflung. Mit dem Sturz der Dynastie und ihrer
Helfershelfer war der Geist des Egoismus, dessen Ausdruck sie gewesen, nicht
überwunden.

Freilich pflanzten die neuen Herrscher die herrlichsten Paniere auf: Freiheit,
Gleichheit, Verbrüderung! waren die Devisen ihrer Fahnen. Die Ungleichheit
unter den Bürgern, die Feindschaft unter den Völkern sollte abgeschafft, das Jen¬
seits der christlichen Verheißung, sollte auf Erden hergestellt werden.

Es ist ein gefährliches Spiel, diese Herstellung der Freiheit durch eine ty¬
rannische Gewalt. Man hat Ledru Rollin heftig angefochten, daß er die neue
Republik durch Proconsuln herstellen wollte; daß er, um den Staat zu regeneri-
ren, um die letzten Reste der alten egoistischen Tradition zu entfernen, selbst das
große Prinzip der Unabsetzbarst und Unabhängigkeit der Richterstellen mit Füßen
trat. Aber was sollte er anders thun? War trotz der ftcien Formen der Charte
die ganze Generation, wenigstens so weit sie offiziell in Frage kam, so verderbt,
daß nur eine Revolution von ihr erlösen konnte, was blieb der "Tugend," die
nur das eigene Wissen von sich hatte, nicht durch die Gesinnung der Masse ge¬
tragen war, was blieb ihr anders übrig, als Gewalt? So oft das Selbstbewußt¬
sein der Tugend die Masse als eine verderbte sich gegenüberstellt, tritt in der
Theorie ein Rousseau, in der Praxis ein Robespierre und Ledru Rollin ein. Der
Herrschaft des Lasters imponirt nur das System des Schreckens.


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Druckes, den der Einzelne schwer und verhängnißvoll empfindet, im Ganzen die
Vernunft durch ihr eignes Gewicht sich geltend macht, wenn sie mit sittlicher Kraft
und sittlicher Energie verbunden ist. Die Revolution ist nicht das Zeichen sitt¬
licher Kraft, sie ist ein Ausbruch sittlicher Schwäche.

Indem Frankreich es einer Masse Pariser Emeutiers überließ, über seine
Geschicke zu bestimmen, brach es über sich selber den Stab; es vertraute seine
Gesundheit der verzweifelten Cur eines ihm fremden Wunderdoktors.

I^a l^r-me« s'ermine! sagte Herr von Lamartine, als der träge Egoismus
der herrschenden Classen der „großen Nation" das süße Gefühl raubte, an der
Spitze der europäischen Bewegung zu stehen. I^-i, Trance s'attriste! sagte er, als
dieser Egoismus, wenn auch nur in einzelnen Erscheinungen, in seiner nackten
Abscheulichkeit zur Anschauung kam, als es sich zeigte, das officielle Frankreich sei
nicht nur unfähig, das Vaterland in der heroischen Stellung zu erhalten, die der
kühne Muth der Jugend und die glorreiche Erinnerung der alten Graubärte für
es forderten, sondern es hege in seinem Schooß die ganze Ruchlosigkeit einer von
den großen Ideen der Geschichte verlassenen Welt. Ehrgeiz kämpfte mit Ehrgeiz,
Habsucht mit Habsucht; die Nation, ermüdet und empört, erhob sich, schüttelte mit
Einem Schlage die eine Partei wie die andere von sich ab und legte ihr Schicksal
in die Hände eines Poeten, eines träumerischen Philosophen und eines Jakobiners.

Der Sturz der Dynastie war nicht der Ausbruch einer productiven Kraft,
er war ein Ausbruch der Verzweiflung. Mit dem Sturz der Dynastie und ihrer
Helfershelfer war der Geist des Egoismus, dessen Ausdruck sie gewesen, nicht
überwunden.

Freilich pflanzten die neuen Herrscher die herrlichsten Paniere auf: Freiheit,
Gleichheit, Verbrüderung! waren die Devisen ihrer Fahnen. Die Ungleichheit
unter den Bürgern, die Feindschaft unter den Völkern sollte abgeschafft, das Jen¬
seits der christlichen Verheißung, sollte auf Erden hergestellt werden.

Es ist ein gefährliches Spiel, diese Herstellung der Freiheit durch eine ty¬
rannische Gewalt. Man hat Ledru Rollin heftig angefochten, daß er die neue
Republik durch Proconsuln herstellen wollte; daß er, um den Staat zu regeneri-
ren, um die letzten Reste der alten egoistischen Tradition zu entfernen, selbst das
große Prinzip der Unabsetzbarst und Unabhängigkeit der Richterstellen mit Füßen
trat. Aber was sollte er anders thun? War trotz der ftcien Formen der Charte
die ganze Generation, wenigstens so weit sie offiziell in Frage kam, so verderbt,
daß nur eine Revolution von ihr erlösen konnte, was blieb der „Tugend," die
nur das eigene Wissen von sich hatte, nicht durch die Gesinnung der Masse ge¬
tragen war, was blieb ihr anders übrig, als Gewalt? So oft das Selbstbewußt¬
sein der Tugend die Masse als eine verderbte sich gegenüberstellt, tritt in der
Theorie ein Rousseau, in der Praxis ein Robespierre und Ledru Rollin ein. Der
Herrschaft des Lasters imponirt nur das System des Schreckens.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/349>, abgerufen am 26.06.2024.